vvn weact.campact.deÜber den Umgang mit Opfern des Naziregimes anläßlich der jüngsten Entscheidung des Berliner Finanzamtes

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - 1960 musste zum ersten Mal ein Bundesminister wegen seiner NS-Vergangenheit zurücktreten.  Den Platz räumen musste damals der von Bundeskanzler Adenauer selbst zum Schluss als „tiefbraun“ bezeichnete Vertriebenenminister Theodor Oberländer (CDU). Elf Jahre nach ihrer Gründung war die Bundesrepublik von der deutschen Vergangenheit eingeholt worden.

Ausgelöst wurde die Affäre durch einen Artikel der antifaschistischen Wochenzeitung Die Tat. Das Sprachrohr der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hatte im September 1959 geäußert, Minister Oberländer stehe in dem Verdacht, an Massenmorden in Lemberg beteiligt gewesen zu sein. Der Beschuldigte erwirkte persönlich am Druckort die Beschlagnahme der gesamten Auflage und löste damit eine Lawine von Fragen nach seiner Vergangenheit aus.  Oberländer bestritt alle Anschuldigungen, verlor aber rasch den Rückkalt in den eigenen Reihen und gab sein Amt nach einem halben Jahr auf.

Damit hätte es sein Bewenden haben können, hätte nicht Bundesinnenminister Gerhard Schröder, wie sein CDU-Parteifreund ehemals Mitglied der NSDAP, einen Monat nach der ersten Veröffentlichung über das braune Vorleben Oberländers, beim Bundesverwaltungsgericht das Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes beantragt. Obwohl das Innenministerium versicherte, der Antrag sei „durch keinerlei Ereignisse der letzten Zeit“ veranlasst worden, pfiffen es die Spatzen von sämtlichen  Dächern, was den Minister zum Handeln bewogen hatte.

Ein politischer Störenfried sollte zum Schweigen gebracht werden. Gegenüber dem Ausland behauptete die Regierung, sie bekämpfe lediglich Staatsfeinde, die als Kommunisten den braunen Terror Hitlers nur bekämpft hätten, weil er dem roten im Weg gestanden habe. Aber die Sache ging nach hinten los. Der von der Bundesregierung zu ihrem Vertreter bestellte Rechtsanwalt Fabian von Schlabrendorff aus dem Kreis der Widerstandskämpfer des 20. Juli sagte bei der Prozesseröffnung Ende November 1962 in Berlin, gerade vor dem Widerstand der Kommunisten könne man sich nur in Ehrfurcht verneigen.

Der Routine des ersten Verhandlungstages folgte am zweiten eine Sensation. Der Gerichtsvorsitzende Fritz Werner wurde aus dem Zuschauerraum heraus beschuldigt, Parteigänger der Nazis gewesen zu sein. Einem ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfer waren Dokumente zugespielt worden, die den Senatspräsidenten als Mitglied der NSDAP seit 1937 und der SA seit 1933 auswiesen. Auf Antrag der VVN-Vertreter wurde der Prozess zunächst vertagt und dann auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

In einem Beschluss stellte der 1. Senat die Frage, ob eine etwaige Feststellung, die VVN sei eine Vereinigung, deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte, im vorliegenden Fall ausreiche, um einen Verbotsantrag zu rechtfertigen. Der dieser Ordnung zugrunde liegende Sühnegedanke, dessen Verwirklichung zu den vornehmsten Aufgaben der Bundesrepublik gehöre, verlange eine Abwägung, ob gegen eine Organisation von Verfolgten ein Verbot mit der damit verbundenen Strafsanktion erlassen werden dürfe.

Der Bundesinnenminister verwarf diesen Gedanken und bestand auf der Fortsetzung des Verfahrens. Für Fabian von Schlabrendorff war das der Grund, das Anwaltsteam der Regierung zu verlassen. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte es ab, einen Termin für die Fortsetzung des Verfahrens anzuberaumen. Der Prozess endete sang- und klanglos am 12. September 1964 mit dem Inkrafttreten eines neuen Vereinsgesetzes.

Ungeachtet ihrer blamablen Niederlage ließ die Regierung nicht davon ab, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die sich inzwischen ergänzend Bund der Antifaschisten nennt, als linksextremistisch zu bezeichnen und aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen. Mit der Entscheidung des Berliner Finanzamtes, der Verfolgtenorganisation die Gemeinnützigkeit abzusprechen, erreichte die Diffamierungskampagne nach 55 Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt. Damit habe Deutschland, so der Holocaust-Überlebende Horst Selbiger in der jüngsten Ausgabe der „Jüdischen Allgemeinen“, nach der von Ralph Giordano konstatierten zweiten Schuld, dem Beschweigen und Vertuschen der Vergangenheit, eine dritte Schuld auf sich geladen.

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vgl. unseren Beitrag: https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/17711-antifaschismus-ist-nicht-mehr-gemeinnuetzig