Bildschirmfoto 2020 01 27 um 01.50.49Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Naziregimes, 2/4

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Auschwitz, das war nicht nur der fabrikmäßige Massenmord in den Gaskammern, sondern das waren auch die Todesschüsse an der Schwarzen Wand, die Morde mit der Phenolspritze, die medizinischen Versuche an Kindern, die Stehzellen, in denen man die Opfer qualvoll verdursten und verhungern ließ. Die Beteiligten an diesen Verbrechen mordeten nicht auf Befehl, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand, sie handelten nicht aus Angst vor Bestrafung, sondern waren mit allem einverstanden. In ihrem eigenen Hass auf Juden und Kommunisten stimmten sie völlig mit der Naziführung überein.

Wer nicht mitmachen wollte, konnte sich ohne disziplinarische Folgen wegmelden. Das ist durch Dokumente belegt und Zeugen im Auschwitzprozess haben das bestätigt. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. Hier schlummert eine bleibende Gefahr für die Zukunft: Die meisten Menschen haben ein kurzes Gedächtnis, sie lassen sich manipulieren, im Zeitalter der elektronischen Massenmedien leichter denn je.

Es hat lange gedauert, bis einige Beteiligte an den Auschwitz-Verbrechen 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht gestellt wurden. Ohne den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wäre das vermutlich niemals geschehen. Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und im Beisein ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern, keine Monster mit blutunterlaufenen Augen. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte.  Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte.

Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über die Todesfabrik im besetzten Polen hatte ich schon einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag. Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das. Über den Tag der Urteilsverkündung schrieb ich:

„Der 19. August des Jahres 1965 war ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Stadt wälzte sich der Verkehr, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, auf dem Schulhof nebenan lärmten Kinder. Die Angeklagten wurden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der ehemalige Gestapomann Wilhelm Boger,  der „schwarze Tod” von Auschwitz,  trug wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verlas der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 20 Angeklagten: Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.

In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die „kleinen Leute” vor Gericht gestanden hätten. Aber auch diese „kleinen Leute” seien damals gebraucht worden, um den Plan zur fabrikmäßigen Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die alles eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.

Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18 000 Seiten.

Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen: den einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

Foto:
© Karikatur des Verfassers, 1964 für DIE ANDERE ZEITUNG