Rolf Gössner
Bremen (Weltexpresso) - Bereits 1951 ist der Rat der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) massiv unter regierungspolitischen Druck geraten und sollte – wie viele andere als „kommunistisch“ oder „linksextremistisch“ eingestufte politische Organisationen auch – verboten werden. Die damalige Bundesregierung und ihr Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) beantragten beim Bundesverwaltungsgericht, über die Verfassungsmäßigkeit beziehungsweise Verfassungsfeindlichkeit der VVN zu entscheiden – bekanntlich einer Organisation von Widerstandskämpfern und Verfolgten des Naziregimes. Die Tücke der Geschichte wollte es, dass ausgerechnet ein ehemaliges Mitglied von SA und NSDAP als Vorsitzender Richter für diese Sache zuständig war.
Der Verbotsantrag und diese makabre Konstellation führten zu scharfen internationalen Protesten mit Abertausenden von Solidaritätsbekundungen zugunsten der VVN. Schließlich sah das Bundesverwaltungsgericht die rechtlichen Voraussetzungen für ein Verbot der VVN zwar als gegeben an – wegen deren Betätigung im Rahmen „kommunistischer“ Politik, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sei. Doch das Gericht besann sich auf folgenden Sühnegrundsatz: Die Pflicht, das im Faschismus begangene Unrecht wiedergutzumachen, „verlangt eine Abwägung, ob gegen eine Organisation von Verfolgten ein Verbot mit der damit untrennbar verbundenen Strafsanktion erlassen werden darf“ (zit.iert nach A.v. Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 19491968, Frankfurt/M. 1978, S.112). Eine solche Abwägung habe die Bundesregierung bei Antragstellung vermissen lassen. Damit scheiterte der Prozess und ein Verbot der VVN unterblieb. Und das bis heute.
Wenn es auch aktuell um kein Verbot der Vereinigung geht, so wird die VVN-BdA – und damit eine bedeutende antifaschistische Vereinigung – durch das Vorgehen des Berliner Finanzamtes dennoch in ihrer Substanz betroffen. Tatsächlich trifft es den ältesten, größten und überparteilichen Zusammenschluss von Verfolgten des Naziregimes, von Überlebenden der Konzentrationslager, von Widerstandskämpfern, Antifaschisten und deren Nachkommen – zudem einen Verein, der wichtige und anerkannte Gedenkstätten-, Erinnerungs- und Zeitzeugenarbeit leistet. Die Gemeinnützigkeit wurde ausgerechnet in einer Zeit des verstärkten Rechtstrends, rechter Gewalt und neonazistischen Terrors entzogen. „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!“, so hat es die Auschwitz-Überlebende und VVN- Ehrenvorsitzende Esther Bejarano Ende November 2019 in einem offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) formuliert. Und die vielfach geehrte, inzwischen 95-jährige Antifaschistin fragt Scholz: „Was kann gemeinnütziger sein als diesen (antifaschistischen; RG) Kampf zu führen? (...) Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?“
Wie politisch dürfen gemeinnützige Vereine agieren?
Die landesweiten und internationalen Reaktionen auf den skandalösen Entzug der Gemeinnützigkeit für die VVN-BdA reichen von Unverständnis bis Empörung. Parteipolitisch wächst der Druck ebenfalls – insbesondere von Seiten der Grünen und Linken, auch aus der SPD gibt es harsche Kritik. Und derweil haben über 1.000 Menschen aus Solidarität ihren Beitritt zur VVN erklärt. Ein klares Votum für die Gemeinnützigkeit von Antifaschismus und Antirassismus (siehe dazu auch die Petition „Die VVN-BdA muss gemeinnützig bleiben“). Die ihr zugrunde liegende Problematik muss generell gelöst werden.
„Attac“, „Campact“ und VVN-BdA sind nicht die einzigen Vereine, die mit Finanzämtern zu kämpfen hatten und haben. Solche Angriffe erlebte zuvor auch der Frauenverband Courage in Wuppertal. In Frankfurt/M. hatte das dortige Finanzamt 2015 dem „Verein für soziale und politische Rechte von Prostituierten“, Doña Carmen, die Gemeinnützigkeit erst ab- und nach langwieriger juristischer Gegenwehr wieder zuerkannt. Selbstverständlich können sich betroffene Vereine rechtlich und gerichtlich mit Einsprüchen und Klagen zur Wehr setzen – möglichst begleitet von einer breiten Solidaritätsbewegung. Und mitunter gibt es ja juristische Korrekturen. Aber das reicht leider nicht, wie das „Attac“-Urteil zeigt (wobei „Attac“ entschlossen ist, seine Gemeinnützigkeit notfalls vor dem Bundesverfassungsgericht zu verteidigen).
Um allerdings eine durchgreifende, allgemein gültige Lösung des Problems zu erreichen, bedarf es politischer Initiativen: Denn nur so lässt sich ein neues, ein klares und modernes Gemeinnützigkeitsrecht erzielen und damit endlich auch Rechtssicherheit schaffen, die durch Finanzämter und Gerichtsurteile so stark erschüttert wurde. Insoweit ist der Gesetzgeber auf Bundesebene gefordert. Bei einer solchen Gesetzesnovellierung muss die rechtsstaatlich höchst fragwürdige Praxis beendet werden, dass bereits die Erwähnung eines Vereins im Bericht einer VS-Behörde zum Entzug der Gemeinnützigkeit führen kann. Solche Stigmatisierungen und Verrufserklärungen, die auf bloßen „tatsächlichen Anhaltspunkten“ eines demokratisch kaum zu kontrollierenden und notorisch „rechtsblinden“ Inlandsgeheimdienstes beruhen, dürfen jedenfalls nicht zu solch gravierenden Folgen führen. Außerdem müssen die Förderungszwecke ergänzt werden, etwa um Menschen- und Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit, Frieden, Antifaschismus und Klimaschutz. Und die Beteiligung an demokratischer Willensbildung darf künftig nicht mehr die Gemeinnützigkeit ausschließen; gemeinnützige Zwecke sollten ganz selbstverständlich auch mit politischen Mitteln sowie willens- und meinungsbildend verfolgt werden können.
Das Bundesfinanzministerium erarbeitet derzeit eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Dabei sei „vorrangiges Ziel“, die „Vereine zu schützen und ihnen weiterhin politisches Engagement zu ermöglichen“. Man wolle „negative Auswirkungen auf den Status der Gemeinnützigkeit ausschließen“. Das klingt zunächst recht positiv. Trotzdem muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet und politischer Druck aufgebaut werden, um tatsächlich eine baldige Reform zustande zu bringen, die diesen Namen verdient und die Rechtssicherheit schafft. Eine solche politische Willensbildungsarbeit wäre wirklich gemeinnützig. Die Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“, ein Zusammenschluss von etwa 150 Vereinen und Stiftungen – darunter Amnesty International, Attac, Brot für die Welt, Campact, Internationale Liga für Menschenrechte, Medico International, Oxfam und Terres des Hommes – streitet für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht für Vereine und Organisationen der Zivilgesellschaft, die Beiträge zur politischen Willensbildung leisten, sowie für mehr Rechtssicherheit .
Foto:
Karikatur ©Privatarchiv Kurt Nelhiebel
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NachDenkSeiten vom 23. Januar 2020.
https://www.nachdenkseiten.de/?p=57899
Der Text von Rolf Gössner basiert auf einem Interview von Markus Bernhardt mit dem Autor, das am 11.01.2020 in der Tageszeitung „Junge Welt“ erschienen ist.
Autoreninfo:
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist in Bremen, ist Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen, Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" (Fischer-TB) und der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ (Hannover/Berlin) sowie Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik sowie mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon Bremen. Internet: www.rolf-goessner.de .
Rolf Gössner ist Autor/Herausgeber zahlreicher Bücher zum Themenbereich Innere Sicherheit, Bürger- und Menschenrechte und demokratischer Rechtsstaat; u.a.: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’ (Hamburg 2007); Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates (Knaur, München 2003; als ebook akt. 2012); Mutige Aufklärer im di-gitalen Zeitalter (Ossietzky Verlag, Dähre 2015); Terror – wo er herrührt, wozu er missbraucht wird, wie er zu überwinden ist (zus. mit Conrad Schuhler; isw-spezial 29, München 2016); Mutige Lebensretter und Aufklärer in Zeiten von Flucht und Abschottung (Ossietzky Verlag, Dähre 2017); Die dunkle Kehrseite der westlichen Werte. Zur verdrängten Mitverantwortung Deutschlands, Europas und des Westens für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen, Gastbeitrag in: Kristina Milz/Anja Tuckermann (Hrsg.), Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste, Hirnkost Berlin 2018, 2. erw. Auflage 2019.
Foto: © Michael Bahlo
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist in Bremen, ist Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin), Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestags und von Landtagen, Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland" (Fischer-TB) und der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ (Hannover/Berlin) sowie Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik sowie mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon Bremen. Internet: www.rolf-goessner.de .
Rolf Gössner ist Autor/Herausgeber zahlreicher Bücher zum Themenbereich Innere Sicherheit, Bürger- und Menschenrechte und demokratischer Rechtsstaat; u.a.: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’ (Hamburg 2007); Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates (Knaur, München 2003; als ebook akt. 2012); Mutige Aufklärer im di-gitalen Zeitalter (Ossietzky Verlag, Dähre 2015); Terror – wo er herrührt, wozu er missbraucht wird, wie er zu überwinden ist (zus. mit Conrad Schuhler; isw-spezial 29, München 2016); Mutige Lebensretter und Aufklärer in Zeiten von Flucht und Abschottung (Ossietzky Verlag, Dähre 2017); Die dunkle Kehrseite der westlichen Werte. Zur verdrängten Mitverantwortung Deutschlands, Europas und des Westens für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen, Gastbeitrag in: Kristina Milz/Anja Tuckermann (Hrsg.), Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste, Hirnkost Berlin 2018, 2. erw. Auflage 2019.
Foto: © Michael Bahlo