kpm Turkische Polizisten an der griechischen Grenze 1In seinem Eroberungskrieg instrumentalisiert der Despot hilflose Flüchtlinge

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Am 9. Oktober 2019 griffen türkische Truppen die Kurdengebiete in Nordsyrien an.

Die standen bis dahin unter dem Schutz US-amerikanischer Verbände. Doch Donald Trump hatte ihren Rückzug angeordnet. Mutmaßlich war ihm die Bedeutung dieser Region nicht klar. Anscheinend hatte er auch vergessen (falls es ihm je klar gewesen sein sollte), dass es nur mit der Hilfe der Kurden gelungen war, den IS weitgehend zu besiegen. Die kurzsichtige und von fehlendem Sachverstand geprägte Entscheidung des US-Präsidenten war faktisch ein Freibrief für Erdogans Expansionspläne. Und der zögerte nicht.

Bereits zweimal waren seine Streitkräfte in Syrien einmarschiert. Das erste Mal im Sommer 2016 („Operation Euphrat-Schild“), das zweite Mal Anfang 2018 („Operation Olivenzweig“). Der Despot plant, einen 480 Kilometer langen und 32 Kilometer breiten sogenannten „Friedenskorridor“ entlang der syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Dieser soll als Pufferzone zwischen Türken und Kurden dienen. Dort will er bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in Lagern in der Türkei leben. Sie haben weder kulturelle Beziehungen zur Türkei noch zu Kurdistan, werden sich also unter normalen Umständen mit keiner der beiden Parteien verbünden. An den Kosten für die Umsiedlung soll sich die EU beteiligen. Falls nicht, droht der Machthaber in Ankara mit der Aufkündigung des Flüchtlingspakts vom März 2016. Zudem ist seine militärische Offensive ins Stocken geraten, die türkischen Truppen haben größere Verluste als zunächst eingeplant. Jetzt stehen orientierungslose und hilflose Menschen an der Grenze zu Griechenland und vertrauen den perfiden Versprechungen Erdogans.

Damit ist der demokratische Teil Europas erneut mit den Folgen jener verhängnisvollen Entwicklung konfrontiert, die mit dem Afghanistan-Einsatz der USA im Oktober 2001 begonnen hat, 2003 mit dem Irak-Krieg fortgesetzt wurde und in der weiteren Folge mehrere Stellvertreterkriege auslöste. Es ging und geht um die geopolitischen Interessen der USA und nicht zuletzt um das Öl-Geschäft. Menschenrechte spielten/spielen keine Rolle. Außerdem fühlen sich Oligarchen in den Nachbarstaaten dazu animiert, die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen und eigene Begehrlichkeiten durchzusetzen.

Erdogan hat diese Karte gespielt (welche auf ein Neu-Osmanien setzt) und dabei die Interessen Syriens und Russlands in der Region unterschätzt. Der Türkei droht eine militärische Niederlage mit katastrophalen humanen und wirtschaftlichen Folgen. Um diese abzuwenden, benötigt der Despot vom Bosporus erst recht materielle, finanzielle und politische Unterstützung durch die NATO. Als Druckmittel setzt er Flüchtlinge ein.

Die EU (vor allem Deutschland und Frankreich) wird nicht bereit sein, Geflüchtete im nennenswerten Umfang aufzunehmen. Denn sie muss die Gefahren von innen abwehren, die von neofaschistischen Parteien à la AfD drohen, die vor allem auf den Faktor Fremdenfeindlichkeit setzen.

Normalerweise müsste man jetzt das Übel an der Wurzel bekämpfen. Zunächst die säkulare türkische Opposition stärken und sie in ihrem Kampf gegen Erdogans System großzügig unterstützen. Den Auslandsgeheimdiensten der EU sollten mehr als ausreichende Informationen zur Lage vorliegen. Selbst für den normalen Beobachter von außen ist erkennbar, dass die Gefängnisse in der Türkei von Oppositionellen geradezu überquellen. Diese warten auf das Signal zum Aufstand.

Die zweite und zusätzliche Option der EU wäre, eine klare Position gegenüber den USA einzunehmen. Der Vorwahlkampf dort zeigt, dass dem Trump im Weißen Haus lediglich Mini-Tramps der Demokraten in einigen Unionsstaaten gegenüberstehen. Die Wähler werden sich vermutlich für das Original entscheiden. Am vulgären und brutalen Kurs würde sich nach den Novemberwahlen nichts ändern. Zu Hoffnung berechtigt allein Bernie Sanders und dessen Einfluss an Ost- und Westküste. Diese Konstellation macht deutlich, dass die USA ähnlich gespaltenen sind wie am Vorabend des Civil War. Nutzen wir also diese Spaltungstendenzen! Im Sezessionskrieg von 1861-65 hat Preußen das getan. Leider nicht wegen der Menschenrechte der Afro-Amerikaner, sondern wegen der unzähligen Möglichkeiten, die ein künftiger Pakt mit dem industriellen Norden bot.

Und in der Zwischenzeit sollten die Flüchtlinge, die nach Europa wollen, von Kriegsschiffen (weil diese schwerer angreifbar sind) aufgenommen, in Sicherheit gebracht, versorgt und über die tatsächliche Lage informiert werden. Parallel dazu müssten EU und UN an praktikablen humanen Lösungen arbeiten.

Foto:
Türkische Polizisten an der Grenze zu Griechenland
© ARD

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 6. März  2020