Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Nach den Wahlen steht Israel an einem Scheideweg, wobei sich in den nächsten Tagen offenbart, ob eine Koalition mit einer Minderheitsregierung gebildet werden kann, was ein politisches Novum wäre.
Während sich Israels Entscheidungsträger dieser Tage vorwiegend, aber noch nicht erfolgreich, mit der Suche nach den wirksamsten Mitteln und Wegen befassen, das Coronavirus unter Kontrolle zu bringen und vor allem die eigenen Bürgerinnen und Bürger vor den potenziell tödlichen Folgen einer Ansteckung zu bewahren, beschäftigten sich Politiker unentwegt mit einem anderen Ziel, mit der Idee von Blauweiss-Chef Benny Gantz, in Ermangelung einer hausinternen Mehrheit eine israelische Minderheitsregierung auf die Beine zu stellen. Rein zahlenmässig würden Blauweiss, die Arbeitspartei, Meretz, Gesher und Avigdor Liebermans Israel Beiteinu sowie die Arabische Liste zusammen 62 Stimmen auf die Waage bringen, verglichen mit nur 58 Stimmen des Rechtslagers.
Eine Milchmädchenrechnung mit klarem Ausgang also? Mitnichten, denn einmal mehr beweist sich die in Israel bekannte Auffassung, über alles könne diskutiert werden, vor allem, wenn auf Anhieb alles klar scheint.
Arabischer Koalitionspartner
Fangen wir also mit der sonnenklaren, nicht wegzuleugnenden Tatsache an, dass der gleiche Gantz, der heute mit allen Mitteln danach strebt, sein Minderheitenkabinett Wirklichkeit werden zu lassen, vor wenigen Tagen noch Stein und Bein geschworen hatte, mit der Gemeinsamen Arabischen Liste keine Gemeinsamkeiten zu haben. Ein arabischer Koalitionspartner (und sei es auch nur einer, der die Regierung von aussen unterstützen würde) komme für ihn nicht in Frage. So hiess es zumindest zu jenen Zeiten, da Blauweiss noch damit gerechnet hatte, den Likud und vor allem Netanyahu in den Wahlen spielend bodigen zu können.
Das gelang aber nicht, wie wir alle wissen. Und da der Teufel in der Not Fliegen frisst, durfte sich auch Gantz offensichtlich erlauben, bisher Gesagtes ins Gegenteil umzudrehen – Hauptsache, es dient den obersten Zielsetzungen, letztlich aber der Aussicht, selbst auf dem Stuhl des Regierungschefs zu sitzen und Netanyahu von diesem zu verdrängen.
So simpel wie das nun klingen mag, ist die Lage allerdings nicht. Bis Mitte Woche wehrten sich nämlich die beiden Blauweiss-Abgeordneten Zvi Hauser und Yoaz Hendel mit Händen und Füssen dagegen, die Kehrtwende des Chefs in Bezug auf die Gemeinsame Liste mitzumachen. Ausserdem ist Gantz auf die Unterstützung von mindestens zwölf der 15 arabischen Abgeordneten angewiesen, will er eine minimale Unterstützung tatsächlich erreichen. Und hier weiss man, dass die als besonders extremistisch geltende Balad-Fraktion innerhalb der Gemeinsamen Liste nur widerstrebend, wenn überhaupt, bereit ist, dem Zionisten Gantz an die Regierungsspitze zu verhelfen. Ohne Balad, Hauser und Hendel würde Gantz aber im nötigen Misstrauensvotum nicht auf die 59 Stimmen kommen, ohne die er die 58 der Rechtsnationalen nicht ausstechen könnte.
Novum Minderheitsregierung
In der Nacht auf den Mittwoch kam es jedoch noch schlimmer für Gantz: Die Chancen des Blauweiss-Chefs, eine Koalition auf der Basis einer Minderheitsregierung zu bilden, drohen wie ein Kartenhaus zusammenzufallen. Schuld daran ist Orly Levy-Abecassis, die Chefin von Gesher, die am Dienstag die Allianz mit der Arbeitspartei und Meretz verlassen und angekündigt hat, sie würde keine Minderheitsregierung unterstützen, die von der Gemeinsamen Liste der arabischen Parteien abhängen würde. Während der Wahlkampagne hatte Levy-Abecassis noch öffentlich gesagt, sie hätte keine Probleme, eine von der Arabischen Liste unterstützte Minderheitsregierung mitzutragen. Doch nun enthüllte sie auf Facebook, sie hätte vor den Wahlen privat das Gegenteil behauptet. Laut TV-Kanal 12 sind die Chancen von Gantz auch gesunken, als der Likud von seiner ursprünglichen Position abrückte, wonach Gantz nach sechs Monaten die Funktion des Premiers von Netanyahu übernehmen könne, während dieser nun fordert, mindestes ein Jahr, wenn nicht gar deren zwei, im Amt bleiben zu können. Wenn das alles stimmt, wäre Gantz gut beraten, sich bereits jetzt auf der Oppositionsbank einen Platz mit Aussicht und zum Träumen zu suchen.
Um das Maß der Hindernisse für Gantz voll zu machen, sei schliesslich noch darauf hingewiesen, dass die Minderheitsregierung, auch wenn sie rechnerisch gebildet werden könnte, dem juristischen Druck von rechts kaum gewachsen sein dürfte. Es wäre nämlich ein Novum in der parlamentarischen Geschichte Israels, eine neue Koalition mit einer Minderheitsregierung zu beginnen. Ein solches Gebilde gab es bisher nur, wenn aus den verschiedensten Gründen diverse Abgeordnete oder Parteien eine bereits bestehende Koalition verlassen hatten. Eine Minderheitsregierung als Ausgangspunkt für die parlamentarische Arbeit einer neuen Regierung hingegen hat es in Israel bisher noch nie gegeben. Die Chancen dieser parlamentarischen Form würden nicht nur als kurz eingeschätzt werden, auch hätten die Oppositionsparteien einen Spass, dieser Regierung bald den Garaus zu machen. Dem dann sicherlich wiederholt zu hörenden Argument, die Opposition hätte in diesem Fall im Sinne des Volkes gehandelt, kann eine gewisse Berechtigung kaum abgesprochen werden, und die Ära von Premier Gantz dürfte in diesem Falle sehr kurz bemessen sein.
Naht die vierte Runde?
Wenn Staatspräsident Reuven Rivlin am kommenden Sonntag seine Beratungsrunde mit allen in der Knesset vertretenen Parteien beginnen wird, um die Frage zu lösen, welchen Parteichef er zuerst mit der Aufgabe betrauen wird, eine Koalition zu bilden, dürfte er vor den intensivsten Wochen seiner Karriere stehen. Auch der Korruptionsprozess gegen Netanyahu dürfte dann nicht nur für den Staatspräsidenten eine willkommene Entspannung darstellen. Oder wird es dann vielleicht einen vierten Urnengang geben? Rivlin jedenfalls wäre gut beraten, bis Sonntag untersuchen zu lassen, ob an den Gerüchten etwas Wahres ist, dass man sich im Likud bereits auf die vierten Knessetwahlen einrichte. Hauptprofiteur wäre in diesem Fall Premier Netanyahu, der dann «gezwungen» wäre, als Übergangsregierungschef noch Monate im Amt zu bleiben.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. März 2020