Über den richtigen Umgang mit Katastrophen in einer komplexen Welt
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ist Corona lediglich ein Härtetest für die Menschheit?
Müssen wir uns auf die so genannte Herdenimmunisierung von ca. 58 Millionen Menschen (bis zu siebzig Prozent der Bevölkerung) und geschätzten 500.000 bis zwei Millionen Toten als unvermeidliche Kollateralschäden in Deutschland einstellen? Oder wird diese Seuche völlig überschätzt und werden dadurch andere, vermeintlich wichtigere, Probleme verdrängt? Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man in diesen Tagen manchen Kommentatoren zuhört. Beispielsweise den Beitrag des Mediziners Bernd Hontschik in der FR am 22. März liest.
Doch wollen wir es zulassen, dass Sachzwänge, die wir selbst – zumeist anhand ökonomischer Standards - definieren, sämtliche ethischen Gebote beiseiteschieben, die bislang Grundlagen des gesellschaftlichen Konsens sind? An welchen Regeln sollten wir uns orientieren, damit wir die Humanität nicht leichtfertig preisgeben?
Vielfach hilft es weiter, den Rat der Philosophen einzuholen, die sich bekanntlich der Liebe zur Weisheit verschrieben haben. „Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind“, schrieb Ludwig Wittgenstein 1921 in seinem „Tractatus logico-philosophicus“. Mit seinem Theorem erinnerte der Sprachphilosoph und Wissenschaftstheoretiker daran, dass eine Tatsache eine andere weder ausschließen noch priorisieren kann. Ja, dass die Komplexität der vom Menschen erkannten Wirklichkeit diesen dazu verpflichtet, keine Reduktion dieser Vielschichtigkeit zu betreiben und entsprechende Versuche nicht zuzulassen. Diese Tatsachen (Elemente) von unterschiedlichster Beschaffenheit und moralischem Wert sind vorhanden. Wir müssen sie zwangsläufig kategorisieren, bewerten und Prioritäten festlegen. Manche Einordnungen werden wegen sich neu ergebender Gesichtspunkte zugunsten besserer Lösungen zu korrigieren sein. Andere hingegen, die elementar die Existenz des Menschen betreffen, besitzen einen ewigen Wert.
Folglich vermag die Bedeutung eines medizinischen Problems, das die Menschheit in ihrem Innersten betrifft, die Wichtigkeit eines sozialen oder politischen zumindest vorübergehend hintanstellen. Denn „die Welt ist alles, was der Fall ist“ (Wittgenstein): Sie ist Corona plus Influenza plus Klimakatastrophe plus Flüchtlingselend plus neoliberaler Kapitalismus plus gefährdete Menschenrechte plus Immobilienspekulation usw. Da man erfahrungsgemäß nicht alles auf einmal lösen kann, ergeben sich – zumal in Notsituationen - Prioritäten.
Empirisch lässt sich sehr exakt beschreiben, dass ein Coronavirus pandemisch vorhanden ist, dass es rasch und exponentiell von Mensch zu Mensch übertragenen wird (vor allem, falls diese leichtfertig handeln) und dass vorrangig lebensältere Menschen mit definierbaren Vorerkrankungen daran lebensgefährlich erkranken und ein hoher Prozentsatz (gemessen an den Gesamterkrankungen und an der gesundheitlichen Infrastruktur der Länder) von ihnen gestorben ist. Und dass man dagegen alles, was irgend möglich ist, tun muss. Die Kulturtechnik des verstehenden Lesens ermöglicht jedem, der es will, dazu, die Sachverhalte zumindest in ihrer grundsätzlichen Bedeutung zu erfassen. Unter den obwaltenden Umständen kann es derzeit nur eine Lösungsperspektive geben:
Das rasche Abflachen der Infizierungen in Richtung Nullinfektion durch konsequente Kontaktverbote.Der besondere Schutz der Risikogruppen.Das Entwickeln von Medikamenten, die den besonders Gefährdeten das Überleben ermöglichen.Das Entwickeln einer Schutzimpfung für die Mehrheit der Bevölkerung.Ein permanentes Durchtesten, um den allmählichen Neustart des öffentlichen Lebens zu ermöglichen.
Der Kampf gegen Corona ist allein wegen seiner bisherigen Opfer ethisch geboten.
Er schließt den Widerstand gegen Neoliberalismus und seine Folgen (u.a. Klimaveränderung), gegen die Ausbeutung von Menschen, gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung von Frauen und Minderheiten, gegen religiösen Fundamentalismus etc. nicht aus, ganz im Gegenteil.
Wir befinden uns nicht auf dem Weg in eine Gesundheitsdiktatur (wie Bernd Hontschik meint), sondern wir machen durch die Oberflächlichkeit, mit der wir an Probleme herangehen, die Dummheit salonfähig und verwechseln zunehmend bei unserem Denken und Handeln die logischen Ebenen.
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Das wirksamste Mittel ist der Faktor Zeit
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