Natan Sznaider
Zürich (Weltexpresso) - Es sind Bilder, die wachrütteln. An Abenden, an denen man in der nationalen Quarantäne vor dem Fernseher sitzt, werden diese Bilder noch viel stärker. Man sah einen Polizeiwagen einen einsamen Radfahrer im Park verfolgen. Er brach die 100-Meter-Regel, die es uns in Israel verbietet, uns von unseren Wohnungen zu entfernen. Gleich danach wurde eine Beerdigung aus Bnei Brak, einer ultraorthodoxen Stadt neben Tel Aviv, gezeigt, wo hunderte von Menschen sich weder um 100 Meter Abstand noch um sonstiges Social Distancing kümmerten.
Nun sah man, was man die letzten Tage nur las: Nicht alle Rabbiner nehmen die Maßnahmen ernst, ganz im Gegenteil, sie sagen sogar, dass das Thorastudium wichtiger sei als das nackte Überleben, dass die Reinigung im rituellen Bad, in der Mikwa, nicht an Bedeutung verloren habe. Das Beten braucht einen Minjan von zehn Männern, Social Distancing ist in engen Wohnungen mit vielen Kindern, dort, wo Wohnungen durch Innenhöfe miteinander verbunden sind, überhaupt nicht möglich. Ein Abstand von zwei Metern ist so gut wie unmöglich. Die Eindringlichkeit der Bilder entkoppelt das Ereignis von dem spezifischen Ort und der spezifischen Zeit und bringt wenigstens einen Augenblick lang die kognitiven Mauern zwischen dem hypermodernen und dem ultraorthodoxen Israel zum Einsturz. Aber es ist ein Einwegspiegel. Viele der Menschen dort haben kein Smartphone, keinen Fernseher, leben in ihrer eigenen Welt, müssen auf die Stimmen ihrer Rabbiner hören, die etwa zwei Wochen hinter der Kurve mit dem Krankheitsverlauf liegen, die der Rest des Landes und auch fast der ganzen Welt im Auge hat. Die von den Rabbinern nicht verbotenen Purimfeiern vor rund drei Wochen rächen sich nun.
Viel mehr Orthodoxe infiziert
Bnei Brak hat wohl achtmal mehr Infizierte als der Rest des Landes. Die israelischen Ultraorthodoxen sind eine relativ kleine Gesellschaft, genaue Zahlen sind schwer zu erfassen, nach Schätzungen sind es wohl etwa 750 000 Menschen, also knapp zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes. Das Spiegelbild, das zurückblickt, funktioniert fast wie das Bildnis des Dorian Gray, die jüdischen Zionisten konnten sich nicht von dem eigenen historischen Ich befreien, das mit ihnen weiterexistiert und möglicherweise angesichts der weiter fortschreitenden Modernisierung auch immer älter aussieht. Deshalb tut man sich mit Maßnahmen gegen sie auch so schwer.
Soziale Distanz
Die übrigen Israeli sind in der Tat sprachlos. Während sie sich an die Vorgaben der sozialen Distanz halten, findet dies bei den anderen nicht statt. Das Leid der entfernten anderen als eigenes Leid findet in einer gemeinsamen Sprache oder gar nicht statt. Wollen wir italienische, spanische oder gar New Yorker Verhältnisse? Der Schrecken für andere wird auf diese Weise zum Schrecken für uns, und der Schrecken hat für uns nicht ein anderes Gesicht, er hat viele Gesichter, und alle sehen aus wie unser eigenes. Weil jeder und jede zum generalisierten Mitleidenden wird, denkt jeder: Das Gesicht der Tragödie könnte sein eigenes sein. «Auch ich werde bald eine Maschine zum Atmen brauchen.» Gerade die traumatische Obszönität, in der Bild und Wirklichkeit, Sprache und Mitleiden eins werden, ist der einzige Garant der Solidarität.
Warum funktioniert das bei einigen Ultraorthodoxen in Israel nicht? (Aus Antwerpen, Paris, Strassburg, London und New York kommen ähnliche Nachrichten.) Ist es die Autonomie, die die orthodoxe Gemeinschaft Israels schon seit ihrer Staatsgründung genießt, die ihre jungen Männer auch vom Militärdienst befreit? Ist es der fast schon natürliche Verdacht gegen die Staatsgewalt, ja gegen jede Autorität, die nicht heilig ist? Ist es die Leugnung, dass das nackte Überleben der einzige Wert wäre, der ja gerade in dieser Corona-Krise uns alle erfasst, die Reduzierung des Menschen auf Atmen und Essen, die für diese Menschen nicht das endgültige Kriterium des Lebens ist? Oder ist es einfach Ignoranz, wie wohl die meisten aufgeklärten Menschen glauben? Und natürlich sind es nicht alle, aber die wenigen bestimmen hier den Ton der vielen. Und inzwischen ist fast die Hälfte der Krankenhausbetten mit Menschen aus diesen Gemeinden besetzt.
Und auch die «Gottesfürchtigen» (Charedim), wie sie hier in Israel genannt werden, werden nun von der Wirklichkeit eingeholt. Es kamen Nachrichten, dass Rabbiner in London und in New York an der Krankheit gestorben sind. Das hatte mehr Gewicht als der Tod der säkularen Israeli, und langsam begann sich auch hier in Israel bei ihnen Panik breitzumachen. Eine kleine Minderheit verweigert sich noch, will gemeinsam beten und lernen. Was eine individualisierte Gesellschaft als Social Distance relativ leicht lernen kann, setzen diese Gemeinden gleich mit dem sozialen Tod. Nun muss der soziale Tod gegen den physischen abgewogen werden. Aber wenn alles gesagt ist, bleibt der Glaube an die Kontinuität und Beständigkeit des jüdischen Kollektivs, der für sie auch von der Schoah nicht beeinträchtigt wurde, als viele Rabbiner davon abrieten, Europa zu verlassen. Diese Beständigkeit wird durch das religiöse Studium aufrechterhalten. Die Männer sind hier eine Lerngemeinschaft, wie sie sich selbst nennen, während der Rest der Gesellschaft eine Arbeitsgemeinschaft ist. Dies zu beenden, bedeutet für sie den sozialen Tod und das Ende der Beständigkeit.
Es ist eine andere Zeitrechnung, eine andere größere Welt der Katastrophen und der Denkräume. Erinnern wir uns an das Klagelied von Jerusalems Zerstörung, «Verwüstung und Schmach»:
Ach, wie einsam sitzt doch jetzt die Stadt,
die einst so stark bevölkert war!
Sie ist zur Witwe geworden,
sie, die gross war unter den Völkern;
die Fürstin der Hauptstädte
Muss nun Frondienste leisten!
Sie weint unaufhörlich bei Nacht,
und ihre Tränen laufen ihr über die Wangen;
sie hat keinen Tröster
unter allen ihren Liebhabern;
alle ihre Freunde sind ihr untreu,
sind ihr zu Feinden geworden.
Ein Text, der vor 2500 Jahren geschrieben wurde. Und er wird immer noch am Tag der Zerstörung des Tempels gelesen. Ein Buch über Gewalt und Trauer. Es muss wohl bald ein neuer Passus geschrieben werden. Es war schon immer interessant, wie Konflikte zwischen der Loyalität zur eigenen Gruppe einerseits und der Loyalität zu universalen Gerechtigkeitsprinzipien andererseits verhandelt werden. Unvorstellbar, dass diese Verhandlungen so tödlich sein können.
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Info:
Natan Sznaider ist ein israelischer Soziologe und lebt und lehrt in Tel Aviv. Er ist Gastprofessor am Sigi-Feigel-Lehrstuhl der Universität Zürich.
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 3. April 2020