Die Corona-Krise im Gottesstaat, Teil 1
Matthias Küntzel
Wien (Weltexpresso) - Auch in der gegenwärtigen Krise zeigt sich, dass das iranische Regime das Leben Zehntausender iranischer Bürger zu opfern bereit ist, sofern es seinen religiös drapierten Machtinteressen dient. Niemand weiß, wieviel Iranerinnen und Iraner das Corona-Virus bisher infiziert oder getötet hat. Sicher ist lediglich, dass den offiziellen Zahlen – 71.000 Infizierte und 4.500 Gestorbene am 13. April 2020 – nicht getraut werden kann.
So ging der “Nationale Widerstandsrat Iran” schon Ende März aufgrund der Angaben von Krankenhäusern und Leichenhallen von 13.000 Toten aus. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet ebenfalls mit Zahlen, die um das Fünffache über den offiziellen Werten liegen könnten.[1]
Vertuschung
Den iranischen Machthabern kommt es mehr auf die Kontrolle der Berichterstattung als auf die Kontrolle der Virusverbreitung an. So untersagte das iranische Gesundheitsministerium, als die Todesfälle in der Pilgerstadt Qum sprunghaft anstiegen, die Veröffentlichung diesbezüglicher Statistiken.[2] Der Welt zufolge gab Ibrahim Raisi, der oberste Richter Irans, die Anweisung, “Tausende von Corona-Toten durch das Ausstellen von gefälschten Totenscheinen zu vertuschen.”[3]
Wie in China wurden auch hier “Sicherheitsagenten” in die Krankenhäuser geschickt, um Ärzten und Pflegekräften Maulkörbe zu verpassen. Man stufte die Weitergabe von Informationen über infizierte Patienten als “Bedrohung der nationalen Sicherheit” ein. Wer hiergegen verstoße, werde “rasch vor ein Disziplinierungskomitee geladen”, heißt es in dem Drohbrief an eine iranische Krankenschwester, den die New York Times zitierte.[4] Bis Ende Februar wurden nach offiziellen Angaben mindestens 24 Menschen inhaftiert, weil sie angeblich Panik verbreiteten.[5]
Welch entsetzliche Folgen diese Politik haben wird, zeigte Mitte März eine Studie der Sharif-Universität in Teheran:
“Die Wissenschaftler haben mit Computermodellen drei Szenarien für den weiteren Verlauf [in Iran] simuliert. In dem günstigsten Fall käme es demnach zu 12.000 Todesopfern. ... In dem realistischeren Fall, bei dem diese [optimalen] Voraussetzungen nicht erfüllt werden, rechnen die Forscher mit 110.000 Toten. Im schlimmsten Fall – sollte es also keine Befolgung der Anordnungen und auch keine Quarantäne geben – seien jedoch auch 3,5 Millionen Tote möglich, da dann das Gesundheitssystem völlig zusammenbrechen werde.”[6]
Warum aber sollte die Bevölkerung die Anordnungen eines Regimes befolgen, das spätestens seit dem 8. Januar 2020 – dem Tag des tagelang vertuschten Abschusses eines Passagierflugzeugs mit 176 Personen durch die Revolutionären Garden – jedwede Glaubwürdigkeit verloren hat? Eines Regimes, dass in den Monaten zuvor 1.500 seiner Bürger, die auf den Straßen demonstriert hatten, erschießen ließ und bis heute keine Aufklärung darüber zugelassen hat? Eines Regimes, das heute mit “einem Schlingerkurs aus Vertuschung, Verschwörungsirrsinn und Verharmlosung” (Christoph Reuter) “das Leben der iranischen Bürger in unverantwortlicher und unmenschlicher Weise ... opfert”, wie es in einer jüngst veröffentlichten Erklärung von hundert iranischen Akademikern und Aktivisten heißt?[7]
Primat der Religion
Ausgangspunkt der Virenverbreitung war die Millionenstadt Qum. Sie ist die ideologische Hauptstadt der islamischen Revolution und eines der wichtigsten spirituellen Zentren der Schiiten weltweit. Noch am 22. Februar, vier Wochen, nachdem China die Bewohner Wuhans von der Außenwelt abgeriegelt hatte, drängelten sich hier Hunderte um den Fatima Masumeh-Schrein, dem religiösen Mittelpunkt der Stadt, um die Eisengitter vor der Grabstätte abzuküssen oder zu berühren.
Mohammad Saidi, Khameinis Vertreter vor Ort, hielt an diesem Tag eine Rede, in der er damit prahlte, dass “niemand es dem Feind erlaubt, Qum als unsicher Stadt darzustellen”.[8] Zu diesem Zeitpunkt tötete das Virus an diesem Ort zehn Menschen pro Tag.
Als der Schrein am 16. März schließlich geschlossen wurde, war das Virus in aller Welt: Von Qum aus gelangte es durch Pilgergruppen in die Region. So wurden im März allein in Bahrain 77 Pilger in einem einzigen Flugzeug aus Iran positiv getestet, so sind im Libanon die Hisbollah-eigenen Spitäler mit Corona-Kranken überfüllt.[9] Der erste Infizierte in New York City und zwei der drei Erstinfizierten in Hamburg kamen ebenfalls aus dem Iran.[10] Gleichwohl weigert sich Khamenei bis heute, den Empfehlungen seiner Gesundheitsbehörde zu folgen und diese Stadt unter Quarantäne zu stellen.
Verschwörungsirrsinn
Schon am 26. Februar hatte Irans Präsident Hassan Rohani das Coronavirus als eine “Konspiration” und als “Werkzeug unserer Feinde” bezeichnet.[11] Am 13. März sprach auch Khamenei von der “Wahrscheinlichkeit, dass es sich [bei dem Virus] um einen ,biologischen Angriff’” handle und beauftragte eine Einheit der iranischen Armee, hiergegen vorzugehen.[12]
Doch dann überbot sich der Revolutionsführer am 22. März mit einer Rede, die das iranische Staatsfernsehen live übertrug, noch einmal selbst. Es war “eine bemerkenswerte, als Jinn-Rede in die Annalen eingehende Rede” betont der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta.[13] Denn hier war nicht mehr allein von den USA, sondern zugleich von bösen Dämonen und Gespenstern die Rede:
“Es gibt Feinde in Form der Jinn”, erklärte Khamenei, “und es gibt Feinde, die Menschen sind und beide helfen sich gegenseitig. Die Geheimdienste vieler Staaten arbeiten zusammen, um uns zu schaden.”
Bei den Jinn handelt sich um übersinnliche Geisterwesen, die der Koran häufig erwähnt; um Wesen “die erschaffen aus rauchlosem Feuer, vernunftbegabt und zum Guten und Bösen fähig sind und sogar in menschliche und tierische Gestalt schlüpfen können”, so Buchta.[14]
Dies war selbst den regimetreuen Medien zuviel: Sie kürzten in ihrer Wiedergabe der Rede Khameneis den Verweis auf die Jinn. Dies aber erregte den Protest der Revolutionsgarden, die die vollständige Rede Khameneis veröffentlichten, um bei dieser Gelegenheit “Jinn” und “Juden” zu kombinieren. So verwiesen sie anlässlich der Neuveröffentlichung von Khameinis Rede auf “den westlich-hebräischen Spionageapparat, der ungläubige Dämonen benutzt”. Sie machten zudem zwei Reden von Regime-Ideologen bekannt, denen zufolge speziell Juden im Bunde mit Zaubermächten stünden: “Die Juden sind Experten auf dem Gebiet der Zauberei und bei der Zusammenarbeit mit Dämonen.”[15] So brachte die Pandemie durch Personifizierung des Virus eine neue Form des islamischen Antisemitismus hervor.
Paranoia und Größenwahn
Man könnte über diesen Obskurantismus lächeln, ginge es dabei nicht um Leben und Tod. Es gebe triftige Gründe für den Verdacht, fuhr Khamenei in seiner Rede fort, dass die USA das Virus in ihren biotechnischen Waffenlaboren selbst hergestellt hätten. Mehr noch: Er vermutet, die USA hätte es speziell für den Iran fabriziert, indem man genetische Daten der Iraner verwendet habe, die man sich auf krummen Wegen beschafft habe. “Eure Medikamente dienen möglicherweise dem Zweck, das Virus weiter zu verbreiten”, rief der Revolutionsführer den Amerikanern zu – ein Vorwurf, der die antisemitische Anschuldigung der Brunnenvergiftung variiert. Deshalb seien all die Angebote der USA, dem Iran Ärzte, Medikamente und medizinische Geräte zur Verfügung zu stellen, strikt abzulehnen.[16]
Auf Ablehnung stieß aber auch das Hilfsangebot der Organisation “Ärzte ohne Grenzen”, die neun Experten entsenden und in Isfahan eine Mini-Klinik mit 50 Betten errichten wollte. “Wenige Stunden nach dem Eintreffen des Teams starteten Medien und Politiker, die den Revolutionären Garden nahestehen, eine Kampagne” gegen diese Organisation, die angeblich den Iran ausspionieren wolle.[17]
Hier wird erneut deutlich, wie vollständig gleichgültig diesem Gottesstaat das Sterben und Leiden der eigenen Bevölkerung ist und wie absolut prioritär die Vorgabe der Ideologie. Dies bestätigt auch ein Aufsatz von Mohsen Rezaee über die langfristigen Folgen der Krise, den er am 2. April 2020 über die staatliche Fars News Agency veröffentlichte. Rezaee war einst Kommandeur der Revolutionären Garden und ist heute Sekretär des “Expertenrats”, der den Revolutionsführer berät.
FORTSETZUNG FOLGT
Anmerkungen:
[1] Vertuschte Iran-Epidemie?, in: FAZ, 31.03.2020.
[2] David D. Kirkpatrick, Farnaz Fassihi und Mujib Mashal, ,Recipe for a Massive Viral Outbreak‘: Iran Emerges as a Worldwide Threat, in: New York Times (NYT), 24.02.2020.
[3] Clemens Wergin, Auf der Suche nach der iranischen Corona-Wahrheit, in: Welt, 05.04.2020.
[4] Farnaz Fassihi and David D. Kirkpatrick, Iran’s Coronavirus Response: Pride, Paranoia, Secrecy, Chaos, in: NYT, 09.03.2020. Siehe zur VR China: Matthias Küntzel, Eine Pandemie made in China, auf https://www.perlentaucher.de/essay/die-chinesische-verantwrotung-fuer-den-ausbruch-der-corona-krise.html.
[5] Al-Monitor Staff, Iran accuses enemies of coronavirus scaremongering, in: al-Monitor, 26.02.2020.
[6] Rainer Hermann, Teheraner Hilferufe, in: FAZ, 19.03.2020.
[7] Visions Of The Post-Coronavirus World – Part III: 100 Academics And Political Activists In Iran Tell Supreme Leader Khamenei:,You Are The No. 1 Culprit In The National Disaster‘, in: MEMRI, Special Dispatch No. 8668, 01.04.2020.
[8] Mehdi Khalaji, The Coronavirus in Iran (Part 1): Clerical Factors, The Washington Institute for Near East Policy, Policy Watch 3277, 09.03.2020; Kirkpatrick et.al., siehe FN 2.
[9] Wolfgang Greber, Islamistenmiliz Hisbollah im Libanon wegen Corona in der Defensive, in: Die Presse, 24.03.2020.
[10] Christoph Reuter, Irans Regierung in der Coronakrise, Spiegel-Online, 12.03.2020; Kerstin Kohlenberg, „Gott, hilf uns“, in: Die Zeit, 02.04.2020.
[11] Al-Monitor Staff, Iran accuses enemies of coronavirus scaremongering, in: al-Monitor, 26.02.2020.
[12] Ayatollah Khamenei commands armed forces to establish medical base to control coronavirus, in: Tehran Times, 13.03.2020.
[13] Wilfried Buchta, Ob es das politische System des Iran unbeschadet durch die Corona-Krise schafft, ist höchst fraglich, in: Neue Zürcher Zeitung, 29.03.2020.
[14] Ebd.
[15] IRGC Cyber Division Confirms Supreme Leader Khamenei’s Assertion That ,Demons Are Assisting The Enemies‘ With Statements That ,The Israeli Mossad Is ... Using Demons‘ And ,The Jews Are Experts At Sorcery And At Creating Relationships With Demons‘, in: MEMRI, Special Dispatch No. 8658, 26.03.2020.
[16] Rainer Hermann, Hass und Lügen, in: FAZ, 24.03.2020, sowie Buchta, FN 13.
[17] Baham Nirumand, Iran-Report 04/20, S. 10f.
Foto:
Pressekonferenz vom 24. Februar 2020. Links der stellvertretende iranische Minister für Gesundheit, Iraj Harirchi, der – sich den Schweiß von der Stirn wischend – erklärt, dass die Lage im Land unter Kontrolle und die Quarantäne ein Relikt aus vergangenen Jahrhunderten sei. Am Folgetag gab er per Videobotschaft bekannt, dass er sich mit Corona infiziert habe und unter Quarantäne stehe. Quelle: farsnews.ir · Urheber: Mehdi Bolourian · Lizenz: CC-BY 4.0
Info:
Die Originalveröffentlichung erschien auf MENA-WATCH in Wien am 14. April 2020