Die Corona-Krise im Gottesstaat, Teil 2
Matthias Küntzel
Wien (Weltexpresso) - Der mit der Pandemie verbundene Einschnitt werde, so Rezaee, nicht nur die Macht Amerikas und Europas infrage stellen, sondern auch die Idee des Liberalismus und der kapitalistischen Kultur. In den westlichen Gesellschaften herrsche ein “zivilisatorisches Corona-Virus, das sie paralysiert, Familien auflöst und sie von ihrer Spiritualität und Wahrheit fernhält.” Dieses Virus habe sich “sogar in den islamischen Gemeinschaften verbreitet, Iran eingeschlossen”. Es handele sich um “eine Erkrankung des Glaubens, die gefährlicher als das Corona-Virus ist.”
Im Gegensatz zum Westen würden jedoch die VR China und der Iran gestärkt aus dieser Krise hervorgehen: “Die neue Welt wird von den Asiaten geformt werden”.
Die Widersprüche zwischen der Gruppe, “die Verbindungen zum zionistischen Lager hat” und für das Virus verantwortlich sei und der anderen Gruppe, zu der die Asiaten gehörten, würden sich verschärfen. Deshalb müsse der Iran “für die große globale Wende vorbereitet sein”.
Der Iran könne seinen Jihad gegen die USA, Israel und Großbritannien nur dann gewinnen, wenn er stärker werde.
“Um Satan zu bekämpfen, müssen wir mit den Waffen der Wissenschaft, der Technologie, der Frömmigkeit und der Moral bewaffnet werden. ... Dies bedeutet, für die Erschaffung einer globalen Revolution auf allen notwendigen Gebieten stärker zu werden.”[18]
Es ist offenkundig, dass Rezaee mit den “notwendigen Gebieten”, auf denen der Iran zulegen müsse, weniger die Gesundheitsversorgung als vielmehr die Raketen- und Atomwaffenentwicklung meint.
Dieses Papier ist bemerkenswert, weil es nicht nur das gegenwärtige Leiden der iranischen Bevölkerung vollständig ignoriert, sondern die Corona-Krise gar als Segen für den Iran und die Welt interpretiert. Jetzt sei es an der Zeit, der revolutionären Veränderung der Welt und dem “Sieg des Retters der Menschheit” Vorrang einzuräumen, schreibt Rezaee. Mit “Retter” ist niemand anderes als der 12. Imam, der Messias der Schiiten gemeint.
Mich erinnert diese Haltung an das Wort des früheren Präsidenten Hashemi Rafsandjani, der vor zwanzig Jahren die nukleare Auslöschung Israels auch dann für sinnvoll hielt, wenn durch einen nuklearen Gegenschlag Millionen Muslime ums Leben kämen, weil der Islam auch dann noch weiter existieren würde. “Es ist nicht irrational, diese Möglichkeit zu erwägen”, schrieb er damals.[19]
Und auch der Slogan des 1936 errichteten Kriegsklotz-Denkmals am Hamburger Dammtorbahnhof kommt mir in den Sinn: “Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen”.
Anders als in Nazi-Deutschland haben wir es im Iran jedoch mit einer desillusionierten Bevölkerung zu tun, die das Leben liebt, während das Regime in den letzten 40 Jahren immer wieder bewiesen hat, dass es auch über Zehntausende Leichen (“Märtyrer”) aus dem eigene Volk hinwegzugehen bereit ist, sofern es nur seinen religiös drapierten Machtinteressen dient.
Sanktionen beenden?
Vom Bruch mit dieser Führung zeugt die bereits erwähnte wütende Erklärung der hundert iranischen Akademiker und Aktivisten. Sie wurde Ende März auf einer Homepage veröffentlicht, die Mir Hosein Mousavi, dem Führer der grünen Bewegung von 2009, nahesteht. Dieser Text beschreibt das “nationale Desaster”, das den Iran nunmehr ereilt habe:
“Als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, ergänzte der Anführer [Khamenei] seine Liste der ewigen Feinde um Geisterwesen und lehnte gleichzeitig die Hilfe der Mediziner ohne Grenzen ab. ... So bezahlen die Bürger Irans, einschließlich der medizinischen Mitarbeiter, die ihr Leben riskieren, den Preis für Dummheit und Ineffizienz”, heißt es hier. “Überall in der Welt lassen die Politiker den Worten und Anweisungen der [medizinischen] Experten den Vortritt. Hier aber, in unserem Iran, müssen [medizinische] Experten den Kommandos und Direktiven der Politiker und Militärs Folge leisten.”
Khamenei trage “die Hauptschuld daran, dass sich die gegenwärtige Krise zum nationalen Desaster ausgeweitet hat. Desweitere ist [Präsident] Rohani an der Verschärfung dieses Prozesses mitschuldig, weil er mit Khamenei bei der Zurückführung der Krise auf eine feindliche Verschwörung und der damit verbundenen Aufhetzung kooperiert.”[20]
Heute aber vergießt das Regime Krokodilstränen, um Mitleid zu erheischen und seine Forderung nach Beendigung des Sanktionsdrucks und einer Zahlung von fünf Milliarden Dollar aus den Beständen des Internationalen Währungsfonds durchzusetzen. Dabei ist ihm das Leiden der eigenen Bevölkerung egal.
“Der Iran hat niemals und wird auch niemals Amerika darum bitten, Teheran in seinem Kampf gegen den [Viren-]Ausbruch zu helfen”, erklärte im April Abbas Mousavi, der Sprecher des iranischen Außenministeriums.[21]
Zwar ist es wichtig und richtig, die notleidende iranische Bevölkerung in der jetzigen Krise mit internationalen Hilfslieferungen und medizinischem Material zu unterstützen – sofern gewährleistet ist, dass diese Güter dank vertrauenswürdiger internationaler Mediziner-Organisationen die Bevölkerung erreichen.
Der klerikalen Elite aber, die sich von den Interessen und Forderungen der iranischen Bevölkerung vollständig abgekoppelt hat, ist in dieser Hinsicht nicht zu trauen. Sie will Geld, um ihre regionale und globale Expansion trotz Pandemie fortsetzen zu können. Sie betrachtet die Erfüllungen ihrer Forderungen als Etappensieg im “Jihad gegen die USA, Israel und Großbritannien”.
Es ist verheerend, dass die Europäische Union im Gegensatz zu den USA diese Forderungen des Regimes unterstützt. Sie hat sich damit auf die Seite der fanatischen Elite um Khamenei und Rezaee gestellt, nicht aber auf die Seite jener mutigen Akademiker und Aktivisten, die dieser Elite, stellvertretend für Millionen Iranerinnen und Iraner, die Stirn bieten.
Anmerkungen
[18] Visions Of The Post-Coronavirus World – Part IV: Iranian Expediency Council Secretary Rezaee: ,An International ... Social Movement Must Be Launched‘; Our Foreign Policy Must ,Prioritize The Expulsion Of The U.S.‘ From The Region; ,We Must Be Ready ... For the Victory of Humanity’s Savior‘ – The Mahdi, in: MEMRI, Special Dispatch No. 8682, 07.04.2020.
[19] Quds Day Speech, December 14, 2001, by Chairman of Expediency Council Akbar Hashemi Rafsandjani, in: MEMRI, Special Dispatch Series No. 325, 03.01.2002.
[20] Visions Of The Post-Coronavirus World – Part III: 100 Academics And Political Activists In Iran Tell Supreme Leader Khamenei:,You Are The No. 1 Culprit In The National Disaster‘, in: MEMRI, Special Dispatch No. 8668, 01.04.2020
[21] Parisa Hafezi, Iran will never ask U.S. for coronavirus help: official, in World News (Reuter), 06.04.2020.
Foto:
©daserste.de
Info:
Die Originalveröffentlichung erschien auf MENA-WATCH in Wien am 14. April 2020