Bildschirmfoto 2020 04 24 um 23.49.12In Zeiten der Pandemie wird das Gedenken an den Holocaust weltweit zum Anlass ohne Publikum

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Weite Teile der jüdischen Welt widmeten sich auch in diesem Jahr, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs alljährlich, dem Andenken an die Opfer der Schoah. Gleichermassen gelten ihre Gedanken aber auch dem Dank an die Überlebenden des Holocaust, die in ihrem heute oft schwer nachvollziehbaren Optimismus, ihrem unerschütterlichen Vertrauen und eisernen Lebenswillen den Grundstein für den Aufbau Israels, den modernen jüdischen Staat, gelegt haben.

Der Jom Haschoah, der Holocaust-Gedenktag des Jahres 2020, bringt neben der Trauer ob der Vergangenheit und der Freude an dem aus der Asche wiederentstehenden Alt-Neuen auch Aspekte mit sich, die kraft ihrer unmenschlichen Schrecklichkeit dem jüdischen Volk und allen Völkern der Welt den Stempel der Einmaligkeit aufgedrückt haben. Letzten Endes ist bleibt nicht viel mehr als eine vage Hoffnung, dass das Coronavirus sich nach seinem teuflisch todbringenden Gastspiel der vergangenen Monate den Platz eines «Hauptprotagonisten» auf dem Veranstaltungskalender der menschlichen Komödien und Tragödien gesichert hat.


Wenn die Erinnerungen sich ausdünnen

Diese Mischung von Rück- und Ausblick war es auch, die der diesjährigen Jom-Haschoah-Zeremonie auf dem mit elektronischen Mitteln nur notdürftig überdeckten Leere der grossen Plaza vor Yad Vashem sein Gepräge verlieh und dies wahrscheinlich von nun an in dieser oder jener Form alljährlich tun wird. Denn jedes Jahr sinkt die Zahl der Zeugen, jedes Jahr verblassen die Erinnerungen der damals Dabeigewesenen weiter. «Wir müssen weiter lächeln», sagte der 92-jährige unverbesserliche Optimist Eliezer Shimoni zu «Yediot Achronot», während der 94-jährige Arie Goldberg, der die schlimmsten Konzentrationslager überlebt hat, wünscht, dass die Pandemie bald überstanden sei.


Ironie der Geschichte

Das Wiedererleben von längst Vergangenem hat dieses Jahr ungewollte Konkurrenz erhalten durch die Gedanken an die Zwangsquarantäne, um dem unsichtbaren Coronavirus zu entrinnen, und nicht selten auch die Trauer um den Freund oder die Lebensgefährtin von Jahrzehnten, die die Abwehr zum Überleben nicht mehr aufbringen konnten. Bewegend und gleichzeitig schockierend wie kaum ein anderes Bild legt das Foto von Goldberg Zeugnis ab von der Surrealität und einer doch so realistischen Doppelwirklichkeit: Der Holocaust-Überlebende, der wegen der Isolation nur durch das verschlossene Fenster auf seine Freunde blicken, sie aber nicht, wie sonst regelmässig, treffen kann. Und dazu wie ein stummer Aufschrei auf seinem linken Unterarm die von den Nazischergen unlöschbar eintätowierte berüchtigte Nummer, die der KZ-Häftlinge verpasst bekam. Goldberg hat nur noch einen Wunsch: wieder in seinem Laden Haushaltgeräte verkaufen zu können, wie er das normalerweise täglich zu tun pflegte. Dass Wörter wie «normalerweise» und «täglich» in der Zeit nach dem Virus womöglich zu einem unerschwinglichen Gut geworden sein könnten, ist für alle schwer zu begreifen, und für Menschen im Alter von Arie Goldberg und Eliezer Shimoni vielleicht noch schwieriger.

Foto:
Im Kampf gegen Covid-19 bekommt der jährliche Holocaust-Gedenktag in diesem Jahr ein anderes Gesicht. Auch die Holocaust-Überlebende Sonia Perminger kann nur per Videoschaltung an der Feier...

Info: 
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 24. April 2020