Israel unter der neuen Regierung
Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Obwohl die Corona-Krise alle anderen Themen dominiert, steht die neue Regierung vor der Frage, ob Israel die Souveränität auf Teile der Westbank ausdehnen soll oder nicht.
Die ersten sechs Monate ihrer Amtszeit wird sich die neue israelische Regierung einem einzigen Thema zu widmen haben: der Corona-Krise und der schwierigen Aufgabe zu verhindern, dass wir in eine zweite Welle schlittern.
Im Übrigen aber ist die israelische Regierung noch weit davon entfernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Nicht einmal Premier Netanyahu weiss genau, wann dies der Fall sein wird. Noch immer steht die eine oder andere Splitterpartei in der Reihe der Politiker und Möchtegernpolitiker, wo sie mit lechzenden Zungen auf die Brosamen warten, die für sie hoffentlich vom grossen Kuchen abfallen werden, die der allmächtige Boss Netanyahu bei der Errichtung seiner fünften Regierung ohne Unterbruch zu verteilen gewillt ist.
Dabei gäbe es mehr als genug wichtige Themen, worüber sich die Abgeordneten der Regierung wird die Köpfe zerbrechen müssen. Kommentatoren und Experten haben das längst begriffen und ihre Federn entsprechend gespitzt. Eines der Themen, das zur ersten echten Bewährungsprobe für das alt-neue Kabinett zu werden droht, ist die Annexion gewichtiger Teile der Westbank, die unter israelische Souveränität gelangen würden. Laut dem in Washington ausgearbeiteten Fahrplan für den trumpschen Nahost-Friedensplan kann mit der Annexion bereits im kommenden Juli begonnen werden. Spricht man mit israelischen Siedlern oder deren Sympathisanten, wäre es sachdienlicher, «kann» durch «muss» zu ersetzen. Für Leute mit Sinn für Realismus ist nämlich kaum denkbar, dass die rechtslastigen Koalitionspartner Netanyahus (vielleicht auch Netanyahu selbst) hier ein überdurchschnittliches Mass an Flexibilität oder gar Geduld aufzubringen bereit sein werden. Dieser Teil der israelischen Polit-Ideologen – das vergisst man nur allzu leicht – betrachtet die zur Diskussion stehenden Teile der Westbank schon längstens als israelisches Besitz- und Eigentum, von dem man nur dank ungünstiger politischer Umstände vorübergehend vertrieben worden sei. Die vorerst noch kritiklos zugunsten der Siedler eingestellte US-Administration unter Donald Trump soll genutzt werden, bevor die Stimmung vielleicht ins pure Gegenteil kippt.
Siedler kämpfen Mehrfrontenkrieg
Erstens gegen eine vielleicht schon im November stattfindende Wachtablösung auf dem Kapitol, und zweitens ebenso verbissen gegen die momentan angeschlagene, aber noch nicht vollends gebodigte Mitte-links-Opposition in den eigenen Reihen. Bis vor kurzem stand an der Spitze dieser Opposition noch Blauweiss-Chef Benny Gantz, der heute aber in einem Akt des erbärmlichen, fast möchte man sagen unwürdigen Selbsterhaltungstriebs bei Netanyahu untergekrochen ist. Ob Gantz sich jetzt schon politisch auf die zweiten anderthalb Jahre der Regierungskadenz einschiesst, in der er laut Rotationsabkommen Premierminister werden soll, ist reine Spekulation. Jetzt aber ist vom ursprünglichen Gantz nur noch ein egozentrischer Opportunist übriggeblieben, der in erster Linie seine Mitstreiter, aber auch einen beträchtlichen Teil des Stimmvolks über alle Massen betrogen hat.
Wenden wir uns also der Kernfrage zu: Ist die Annexion von Teilen der Westbank eine rein innerisraelische Angelegenheit oder ebenso eine amerikanische, europäische oder gar arabische?
In der «Jerusalem Post» nahm Tova Lazaroff dazu wie folgt Stellung: «Für einen kurzen Augenblick schien es fast, als ob US-Staatssekretär Mike Pompeo und rechtsgerichtete israelischen Anhänger der völligen Souveränintät mit der Idee völlig einig gehen würden, dass die Annexion der Westbank eine israelische und keine internationale Angelegenheit sei.» Indem er den Schritt als «israelische Entscheidung» bezeichnete, sprach Pompeo so, als ob die Idee, dass Israel seine eigenen, definitiven Grenzen in einem der am heissesten, umstrittensten Territorien der Welt, der Westbank, bestimmen könnte, jedem klar wäre. Für Israels Rechte hat die Rückkehr der Juden ins biblische Herzland aus historischen, nationalistischen oder religiösen Gründen wenig mit internationalen Beziehungen, «Besetzung» oder «palästinensischer Eigenstaatlichkeit» zu tun. Im Wesentlichen, so fuhr Lazaroff fort, handle es sich bei der israelischen Souveränität in Judäa und Samaria (Westbank) um die wörtliche zionistische Realisierung eines 2000 Jahre alten Traums von der Rückkehr «ins Land». Das sei Teil des nationalen Bewusstseins, seit die Juden von den Römern ins Exil vertrieben worden seien.
US-Wahlen im Blick
Aus einer anderen Warte hat Herb Keinon, der diplomatische Korrespondent der «Jerusalem Post», die Angelegenheit beurteilt. «Warum», so fragte er, «war dies das einzige nicht mit der Coronakrise zusammenhängende Thema, das in den kommenden sechs Monaten (der Regierung) behandelt werden konnte?» Und er antwortete gleich selbst darauf: «Weil die Uhr in den USA unaufhaltsam in Richtung auf die Wahlen vom 3. November tickt. Netanyahu will in der Lage sein, in dieser Sache deutlich vor jenem Datum vorwärts zu machen.» Warum? Erstens, weil die Administration Trump kaum die geistige Bandbreite hat, sich mit einer so bedeutungsvollen Entwicklung so kurz vor den Wahlen noch zu beschäftigen. Zweitens aber hat Trump, aus seinen eigenen politischen Überlegungen heraus, ein Interesse daran, dass dies eher früher als später geschieht. Seine Kampagne wird jetzt noch von seiner Bewältigung der Krise dominiert. Doch dann kann er Israels Annexion eines Grossteils seines biblischen Kernlandes evangelikalen Wählern als einen bedeutenden Erfolg verkaufen.
Und wie weiter?
Israel verkündet im Juli die Annexion des Jordantales und aller Siedlungen. Der Trump-Plan gestattet uns, dies zu tun, sobald eine gemischte Kommission den exakten Grenzverlauf bestimmt hat. Und Trump gewinnt dann noch eine Kadenz. Dann werden die USA und Israel die diplomatische Opposition von Europa und den Arabern gewiss so abwehren können, wie sie die Kritik gegen die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem verkraftet haben. Was aber, wenn Trump verliert? Wenn der vermutete demokratische Kandidat Joe Biden gewinnt? Biden selbst sagte in einer aufgenommenen Botschaft an die Israel-Lobby AIPAC im vergangenen Monat: «Israel muss, so denke ich, diese Drohung mit der Annexion und Siedlungsaktivität aufgeben.» Seiner Meinung nach müsse Israel daher aufhören, das zu tun, was Trumps «Jahrhundertdeal» dem Alliierten klar zu tun ermöglicht: Seine Souveränität auf Teile der Westbank auszudehnen, während er gleichzeitig die Errichtung eines entmilitarisierten Palästinenserstaat auf den restlichen 70 Prozent des Territoriums und Verhandlungen mit dem ungeliebten Nachbarn unterstützt.
Das könnte Israel zwingen, rund 53 Jahre nach dem Sechstagekrieg, der ihm Ostjerusalem brachte, Judäa, Samaria, den Gazastreifen, die Golanhöhen und den ganzen Sinai unter seine Kontrolle brachte, das zu tun, was es immer schon hätte tun müssen: zu entscheiden, was es effektiv will.
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Je nach Ausgang der bevorstehenden US-Wahlen im November steht für Israel die Frage im Raum, was mit der Westbank passieren soll
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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 30. April 2020