Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Europäische Union und speziell die Euro-Zone haben eine Grundsatzfrage nicht geklärt.
Denn sie versuchen, eine gemeinsame Strukturpolitik der Mitgliedsländer (z.B. Bürgerrechte, Regulierung der Daseinsvorsorge, Freizügigkeit, fairer wirtschaftlicher Wettbewerb, Angleichung der Finanzsysteme) ohne eine tiefgreifende politische Vereinigung, die Verfassungscharakter besäße, durchzusetzen. Dieses Vorhaben kann nicht gelingen, solange de Gaulles und Adenauers Idee vom „Europa der Vaterländer“ ein „Vaterland Europa“ verhindert. Letzteres scheitert nicht nur an nationalen Mentalitäten oder an gegenläufigen Entwicklungen in den jeweiligen Volkswirtschaften. Auch die demokratisch zustande gekommenen Verfassungen blockieren die formale Verschmelzung der EU- und EURO-Länder. Nach wie vor müssen EU-Gesetze in nationales Recht unter Beachtung des verfassungsrechtlich Möglichen umgewandelt werden. Bei der Datenschutzgrundverordnung, die vor zwei Jahren endgültig in Kraft trat, war das in Deutschland problemlos möglich. Denn die Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder hatten auf diesen Gebieten längst Pionierarbeit geleistet. Hingegen fehlen dem neuen europäischen Urheberrecht die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber denen, welche das geistige Eigentum am liebsten entwerten möchten (z.B. Google, Facebook, Instagram etc.). Noch anders sieht es bei den Aufgaben und Pflichten der Europäischen Zentralbank aus.
Sie ist als Hüterin der Geldwertstabilität einerseits eigenständig, andererseits darf sie aber keine Geldpolitik machen. Vor allem ist ihr die direkte oder indirekte Finanzierung anderer EU-Staaten untersagt, weil das nicht nur in Deutschland in die von den Verfassungen geschützten Rechte des Parlaments eingriffe. Doch genau das wird seit 2015 praktiziert.
Spätestens seit dem Beginn der Ära Draghi muss sich die EZB auch vorwerfen lassen, die Spekulanten in der EU zu fördern und Normalbürger (Sparer, Wohnungsmieter) sowie systemrelevante Pensionsfonds und Versicherungen zu enteignen. Die internationale Finanzkrise von 2008/2009 offenbarte die Verstrickung der Realwirtschaft mit dem international aktiven Handel wertloser Finanzderivate und überbewerteter Immobilien. Im Hintergrund operierten Großbanken wie Goldman Sachs, die bis heute an ihren Geschäftsmodellen festhalten. In Italien, Griechenland und Spanien kamen finanziellen Verwerfungen hinzu, die ihre Ursachen im Steuerverzicht gegenüber Wohlhabenden und großen Unternehmen und in der Inaktivität gegenüber Spekulanten, vor allem denen auf dem Immobiliensektor, haben. Zu diesem Kreis der unsolidarischen Europäer zählen auch bzw. zählten sehr lange auch Luxemburg, die Niederlande und Irland mit ihren Dumpingsteuersätzen für internationale Multis.
Der Ankauf von Staatspapieren durch die EZB folgt einer erkennbaren Blaupause, die ganz offensichtlich dem Kalkül von Mario Draghi entspricht, dem EZB-Präsidenten, der vom 1.11.2011 bis zum 28.10.2019 im Amt war. Bereits bei seiner Ernennung wurde ein möglicher Interessenkonflikt wegen seiner vormaligen Tätigkeiten bei Goldman Sachs befürchtet. Als Gouverneur der italienischen Zentralbank tolerierte Draghi äußerst riskante Geschäfte der Bank „Monte dei Paschi di Siena (MPS )“. Noch im Oktober 2011, kurz vor seinem Wechsel zur EZB, genehmigte er der schwer angeschlagenen MPS einen durch Wertpapiere gesicherten Kredit in Höhe von zwei Milliarden Euro, ohne die Öffentlichkeit und das italienische Parlament darüber zu informieren – was er hätte tun müssen. Durch diese geheime Rettungsaktion landete Wertpapierschrott (u.a. auch Anlagen der Mafia) bei der nationalen Notenbank. Die Inhaber der Papiere gelangten auf diese Weise in den Genuss von Staatsanleihen, deren Zins- und Schuldendienst vom Steuerzahler getragen wird. Draghi legte damit den Grundstein für ein europäisches Schattenbankensystem unter Führung der nationalen Notenbanken. Ein System, das hauptsächlich dazu geschaffen wurde, Geschäftsbanken und ihre Eigentümer auf Kosten der Steuerzahler vor Pleite und Verstaatlichung zu schützen. Der Anleihenkauf der EZB entspricht vollständig dieser Geschäftspolitik.
De facto tragen die Sparbücher und Alterssicherungseinlagen von Bürgern mit kleinen und mittleren Einkommen wesentlich dazu bei, dass überschuldete Staaten über den Umweg von EZB-Anleihekäufen saniert werden. Es widerspricht auch der gemeinwirtschaftlichen Aufgabe der EZB, wenn Sparer ihr bei Geschäftsbanken und Sparkassen deponiertes Geld zinslos verleihen müssen, während beispielsweise Wohnungen und Häuser gebaut werden, die sich exakt diese Sparer nicht (mehr) leisten können. So notwendig eine gemeinsame europäische Finanzpolitik ist, so verwerflich ist deren Ausrichtung an den Interessen relativ weniger Kapitalgesellschaften und Hedgefonds. Möglich ist das, weil sich die EU immer noch als „Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft“ versteht und nicht als enger Bund europäischer Länder, in dem die Nationen allmählich aufgehen. Hierfür wären staatsrechtliche Voraussetzungen nötig, die noch nicht einmal begonnen wurden.
Die negativen Folgen einer nicht gemeinwirtschaftlichen Geldpolitik, die große Teile der Bevölkerung betreffen, haben zudem die Gültigkeit der bestehenden nationalen Rechtssysteme durch schleichende Nichtbeachtung infrage gestellt. In der Bundesrepublik ist die richterliche Gewalt die dritte Kraft unter den Verfassungsorganen. Sie kann nicht durch den Europäischen Gerichtshof überstimmt werden, wenn es um Grundrechte und die innerstaatliche Ordnung geht. Denn während das Grundgesetz der Bundesrepublik die soziale Verpflichtung von Eigentum festschreibt, fehlen dazu in den EU- sowie in den EURO-Verträgen eindeutige und einklagbare Verpflichtungen. Deswegen verfügt der EuGH über kein ausreichendes rechtliches Instrumentarium.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen einen ungeprüften Aufkauf von Staatsanleihen ist demzufolge richtig.
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Gebäude der EZB in Frankfurt am Main
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