Aber rund um Thüringen könnte sie bald nötig sein
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das Land Thüringen will Anfang Juni die allgemeinen Corona-Beschränkungen beenden.
An deren Stelle sollen nur noch lokale Maßnahmen treten, falls in einer Region ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche feststellbar ist. Dann sei eine Rückkehr zu Abstandsgebot, besonderer Händehygiene, Maskenpflicht und Teilschließungen von Schulen und Kindertagesstätten unausweichlich. „Ab 6. Juni möchte ich den allgemeinen Lockdown aufheben und durch ein Maßnahmenpaket ersetzen, bei dem die lokalen Ermächtigungen im Vordergrund stehen", äußerte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) vor Pressevertretern. Einzelheiten sollen in der nächsten Kabinettssitzung am 26. Mai beraten werden.
Das angekündigte Ende der Corona-Beschränkungen ist bei der CDU auf ein positives Echo gestoßen. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion im thüringischen Landtag, Mario Voigt, begrüßte das Vorhaben. Denn die Menschen wünschten sich Normalität. Viele Beschränkungen der letzten Wochen seien lebensfremd gewesen. Deshalb sei es gut, wenn das jetzt geändert werde.
Die Infektionen sind in Thüringen zwar deutlich zurückgegangen. Am 24. Mai betrugen sie laut RKI insgesamt 2.857. Das waren 27 mehr als am Vortag. Aber deutlich mehr als in Brandenburg (1), Bremen (3), Hamburg (3), Rheinland-Pfalz (8), Saarland (4), Sachsen (2) und Schleswig-Holstein (0). Das lässt nur den Schluss zu, dass die Landesregierung mit Unterstützung der Opposition ein nicht kalkulierbares Risiko eingehen will.
Und das, obwohl Thüringen keine Insel ist. Es steht wie andere Bundesländer auch vor der Frage, inwieweit es sich für den Tourismus öffnen kann und will. Offene Grenzen und das Fehlen von Vorsichtsmaßnahmen begünstigen die Verbreitung des Virus. Deutschland und Europa haben diese Fehler bereits im Januar begangen – trotz der seit Dezember bekanntgewordenen Epidemie in China. Oder plant Ministerpräsident Bodo Ramelow den Bau einer wie immer zu gestaltenden Mauer, die für Menschen und Viren undurchlässig wäre? Zugegeben: Entsprechende Grundkenntnisse sind in Ostdeutschland vorhanden. Aber sollte man wirklich alles machen, zu dem man fähig wäre?
Der Umgang mit der Corona-Pandemie offenbart auch die besonderen Schwachstellen der Linkspartei. Sie scheint Gefahr zu laufen, linkische Dilettanten hervorzubringen. So ist der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Andrej Hunko, wegen seiner Teilnahme an einer Demonstration gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in die Kritik geraten. Hunko hatte in Aachen an einer sogenannten „Mahnwache für Grundrechte“ teilgenommen. Dort warf er in einer Rede Microsoft-Gründer Gates einen zu großen Einfluss auf die Gesundheitspolitik vor. Ein nassforscher Ramelow und ein intellektuell unzurechnungsfähiger Hunko zählen zu jenen Politikern, die man in einer existentiellen Krise überhaupt nicht braucht.
Zudem gibt es unübersehbare Warnzeichen. Der Corona-Ausbruch in einem Restaurant in Moormerland (Landkreis Leer) wurde offenbar durch Verstöße gegen die bestehenden Corona-Regeln ausgelöst. "Nach ersten Erkenntnissen ist das Infektionsgeschehen vor Ort nicht auf einen normalen Restaurantbesuch zurückzuführen", teilte die niedersächsische Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) am Samstagnachmittag mit. "Stattdessen wurde dort offenbar eine private Party gefeiert." Ein Sprecher des Landkreises bestätigte, dass es sich um eine geschlossene Veranstaltung handelte. Laut Zeugenaussagen soll es zudem Anhaltspunkte für Verstöße wie Händeschütteln, Verzicht auf Mundschutz und Nichtbeachtung des Mindestabstands geben. Neben dem Wirt haben sich mindestens acht Gäste infiziert. Insgesamt 70 Kontaktpersonen der Betroffenen mussten mittlerweile in Quarantäne. Weitere Testergebnisse stünden noch aus. Entsprechend aufwendig sei die Nachverfolgung.
Im Landkreis Leer war offiziellen Angaben zufolge mehr als eine Woche lang überhaupt keine bestätigte Neuinfektion gemeldet worden. "Die neu aufgetretenen Infektionen im Landkreis Leer verdeutlichen einmal mehr, dass das Virus nicht besiegt ist", sagte Gesundheitsministerin Reimann. "Es ist noch da und wir müssen weiterhin sehr wachsam sein, um die großen Fortschritte der letzten Wochen nicht zu gefährden."
Bodo Ramelow hat also allen Grund, seine Planung infrage zu stellen. Und auf besonnene Parteifreunde wie Stefan Liebich und Frank Tempel zu hören. Letzterer meinte zu dem Thema, dass die Oppositionsrolle bei der Linken nicht dazu führen dürfe, in der Coronakrise grundsätzlich alles, was die Bundesregierung täte, infrage zu stellen und Verschwörungsideologien nachzuplappern.
Hinweis:
Von heute: Kritik an Ende der Corona-Beschränkungen in Thüringen
24.05.20, 12:42 Uhr
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat das Ende der Corona-Beschränkungen scharf kritisiert. "Wir haben keine Neuigkeiten in Bezug auf die Gefährlichkeit des Virus", sagte Lauterbach der "Saarbrücker Zeitung". Thüringen stelle jetzt genau die Maßnahmen in Frage, denen man den gesamten Erfolg im Moment zu verdanken habe.
"Ramelow relativiert damit die Krankheit", sagte Lauterbach. Nach wie vor sei die Sterblichkeit durch das Coronavirus hoch, gerade bei älteren Menschen. Es blieben auch oft Spätschäden zurück. Außerdem gebe es weder ein wirksames Medikament noch eine Impfung, betonte der Mediziner. "Von daher gibt es überhaupt keinen Grund, das aufzuheben, was wir mühsam gelernt haben - etwa Abstand zu halten und eine Maske zu tragen."
Foto:
Warnschild an der einstigen DDR-Grenze, Ostseite
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