Jacques Ungar
Tel Aviv (Weltexpresso) - Verstohlen blickte Ihr Berichertstatter wiederholt auf den Kalender, doch die Datumsangabe war immer dieselbe: Wir befinden uns Mitte Mai, kurz vor dem Wochenfest (Schawuot), das am Donnerstagabend beginnen wird. Die eingangs gestellte Frage, ob wir uns täuschen und wir uns effektiv mitten im Narrenfest Purim befinden oder dann im Trauer- und Fasttag Tischa Beaw, der normalerweise im Hochsommer begangen wird, hat nichts zu tun mit Kalenderfehlern, sondern mit der Stimmung, die am Sonntagnachmittag in Jerusalem herrschte:
Wenige Stunden vor Beginn des Prozesses gegen Netanyahu, bei dem es bekanntlich um Dinge wie Bestechung, Betrug und Vertrauensmissbrauch geht, veranstalteten Gegner und Anhänger des Regierungschefs vor dem Jerusalemer Bezirksgericht Kundgebungen, deren infernalischer Lärm in etwa das andeutete, was Israel in den nächsten Wochen, Monaten und vielleicht sogar Jahren in der Nähe des Gerichtsgebäudes, aber auch, je näher der Moment der Urteilsverkündung rückt, im ganzen Lande miterleben darf/muss. Netanyahus Verteidigung ist grösstenteils, so erweckte es zumindest am Sonntag den Anschei, fast total auf Emotionen ausgerichtet. Die neue Transportministerin Miri Regev redete in einer emotional mitreissenden, sachlich aber schon viel weniger überzeugenden «improvisierten» Rede vor begeistert mitgehendem Publikum der Unschuld ihres ideologischen Mitstreiters und Parteichefs das Wort, ohne aber nur ein halbes Wort hervorgebracht zu haben, das auf faktische Unschuldsbeweise hingedeutet hätte.
In erster Linie Antipathien und Sympathien sollen Bibi helfen, das angestrebte Ziel zu erreichen: Einen ganzen oder zumindest partiellen Freispruch in teils extrem schwierigen Anklagepunkten, und im schlimmsten Fall einen Abgang in Ehren von der politischen Bühne Israels, die er während Jahrzehnten usurpiert hatte. Nicht alleine, sondern zusammen mit einer ganze Belegschaft ideologisch ergebener Minister, aber auch «Menschen wie Du und ich» der Rechtsszene des Jüdischen Staates.
Benny Gantz von Blauweiß, der Koalitionspartner des Premierministers, der es wohlweißlich vorgezogen hatte, sich das Pandämonium vor dem Jerusalemer Bezirksgericht durch die Medien ins Haus zu bringen (oder wo auch immer er sich aufgehalten mag), zog einer sachlichen Beurteilung der Position Netanyahus die nichtssagende Feststellung vor, er habe volles Vertrauen in das Rechtswesen des Landes. Je nach Verlauf des Prozesses wird aber auch Gantz früher oder später Farbe bekennen müssen. Schließlich soll er, wenn das Rotationsabkommen konsequent eingehalten wird, in anderthalb Jahren Regierungschef Netanyahu ja von dessen Sitz ablösen. Dich das war am schicksalshaften Sonntagnachmittag kaum ein Gesprächsthema und wenn, dann nur hinter vorgehalteneer Hand. Aus Gründen der Informationsvollständigkeit sei zum Schluss noch erwähnt, dass mit der Eröffnung des Netanyahu-Prozess erstmals in der Geschichte des Landes ein amtierender Regierungschef auf der Anklagebank sitzt.
Foto:
Eine Protestaktion gegen Netanyahu vor dessen Residenz am gestrigen Sonntag
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. Mai 2020
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Eine Protestaktion gegen Netanyahu vor dessen Residenz am gestrigen Sonntag
© tachles
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 25. Mai 2020