Rolf Gössner
Bremen (Weltexpresso) - Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann.
Dennoch sollten wir die alptraumhafte Situation im Gefolge des Corona-Virus (SARS-CoV-2/Covid-19) kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen – gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage und widersprüchlicher Begründungen verhängt worden sind.
Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollen dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte. Diese Debatte leidet leider noch immer und immer wieder unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung: „Wer dieser Tage von Freiheitsrechten spricht“, so Charlotte Wiedemann in der „taz“ (schon am 25.03.2020), „wird leicht der Verantwortungslosigkeit bezichtigt (...). Und überhaupt: Kritik ist nicht an der Zeit! (...) Auch die Medien stehen unter Konformitätsdruck.“
Bei so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten und autoritären Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern.
Erstens: Das Corona-Virus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – „dank“ der obrigkeitsstaatlichen Abwehrmaßnahmen, die tief in das Leben aller Menschen eingreifen: Abwehrmaßnahmen, die mit Sicherheit schwerwiegende gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen.
Zweitens: Wir erlebten mit dem partiellen, aber dennoch weitreichenden „Shutdown“ im März/April 2020 einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand in Echtzeit und auf (seinerzeit) unbestimmte Dauer – nach gewissen „Vollzugslockerungen“ seit Ende April „neue Normalität“ genannt (so SPD-Vizekanzler Olaf Scholz und CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn). Wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik wurden durch zwangsbewehrte Kontakt- und Versammlungsverbote flächendeckend elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt: Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit sowie Schutz von Ehe, Familie und Kindern, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbe- und Reisefreiheit. Das gesamte private, soziale, kulturelle, religiöse und in weiten Teilen auch wirtschaftliche Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Bewohnern war betroffen und kam weitgehend zum Erliegen – mit dem Ziel, damit Gesundheit und Leben zu schützen. Schutzgüter, denen ansonsten nicht immer so viel Wertschätzung zuteil wird: Denken wir nur etwa an die zeitgleiche, EU-politisch geduldete und mitverantwortete katastrophale Situation von Geflüchteten in griechischen Flüchtlingslagern oder an ausländische Arbeitskräfte in deutschen Schlachtbetrieben mit höchst prekären Produktionsbedingungen und beengten Unterkünften; oder aber denken wir an Agrargifte, Umweltbelastung, Verkehrstote durch Raserei, etwa 25.000 Tote pro Jahr durch multiresistente Krankenhaus-Keime, Zigtausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, zahllose Tote und Verletzte infolge von Waffenexporten in Krisengebiete und an Diktaturen, verheerende Wirtschaftssanktionen oder Kriegsbeteiligungen.
Drittens: Unter den erlebten Bedingungen des Ausnahmezustands im März/April 2020 ist jede organisierte Gegenwehr und kollektive Meinungsäußerung im öffentlichen Raum weitgehend tabu – ob in Form von Protesten, Demonstrationen oder Streiks. So etwa Demos gegen den Ausnahmezustand, gegen die existenzbedrohenden Folgen einer bevorstehenden Wirtschaftskrise oder aber gegen die kollektive Verdrängung der grauenvollen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern. So wurde politische und soziale Teilhabe weitgehend ausgebremst, so werden Versammlungsfreiheit und Streikrecht per Allgemeinverfügung und Polizeigewalt ausgehebelt und damit in ihrem Wesensgehalt verletzt – zeitweise selbst dann, wenn die Aktivisten Sicherheits- und Abstandsregeln beachten. Ein verfassungsrechtliches Desaster mit polizeistaatlichen Anklängen, dem das Bundesverfassungsgericht endlich Mitte April 2020 Einhalt geboten hat. Generelle Verbote per Verordnung ohne Prüfung des Einzelfalls sind unzulässig (Az. 1 BvR 828/20). Auch in Zeiten von Corona müssen Versammlungen, dann eben unter geeigneten Auflagen, zugelassen werden, wie das inzwischen auch wieder geschieht – trotz aller notwendigen Kritik an problematischer Heterogenität und oft nicht gelingender Abgrenzung gegen Rechts.
Viertens: Auch bei großer Gefahr sind staatliche Instanzen gehalten, gesetzes- und verfassungsgemäß zu handeln – was jedoch in Zeiten der „Corona-Krise“ und unter dem Primat der Gesundheitsvorsorge („überragendes Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens“) nicht mehr durchgehend zu gelten scheint. Doch selbst in solchen Zeiten sind die sozialen Verwerfungen und gesundheitlichen (Langzeit-)Folgen der Beschränkungen des täglichen Lebens in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einzubeziehen. Auch die (Über-) Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei der Abwägung angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte. Im Übrigen gewährt der Staat nicht die Grundrechte, sondern er hat ihren Schutz zu gewährleisten und jede Einschränkung, jeden Eingriff auf Gesetz zu gründen und zu rechtfertigen. Denn in einem demokratischen Rechtsstaat müssen sich die Bürger*innen auch in einer schweren Krise darauf verlassen können, dass in die Freiheits-, Teilhabe- und Schutzrechte nicht unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig eingegriffen wird, sondern jeweils die mildesten Mittel gewählt (und geeignete Ausgleichsmaßnahmen ergriffen) werden.
Fünftens: Doch eine solche differenzierende Rechtsgüter-Abwägung schien im Frühjahr 2020 mit etlichen der Allgemeinverfügungen und Verordnungen des Bundes und der Länder gerade nicht erfolgt zu sein: So war etwa in manchen Ländern wie Bayern oder Sachsen das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund untersagt – was im Falle einer polizeilichen Überprüfung die Privat- und Intimsphäre tangiert. In Berlin wurde das Lesen eines Buches auf einer einsamen Parkbank oder Picknick mit zwei Personen polizeilich geahndet. In Sachsen durften sich Bewohner nur im Umfeld ihrer Wohnungen bewegen; Bewohner mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern wurden praktisch des Landes verwiesen oder durften nicht einreisen usw. Solche paternalistischen Verbote waren und sind weder aus epidemiologischer Sicht notwendig, noch sind sie verhältnismäßig. Sie grenzen an Schikane und Willkür; inzwischen sind sie weitgehend abgemildert oder aufgehoben worden.
Sechstens: Die meisten exekutiven Anordnungen des Bundes und der Länder dürften hinsichtlich Kontakt- und Versammlungsverboten womöglich ohnehin nicht verfassungsgemäß gewesen sein, weil dafür nach Auffassung mancher Verfassungsrechtler eine taugliche Rechtsgrundlage fehle. So sieht es u. a. auch die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter: Das Infektionsschutzgesetz, auf das solche Maßnahmen gestützt werden, erlaube individuell, zeitlich und räumlich nur „eng eingegrenzte Beschränkungen“. Wochenlange Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für das gesamte Land und seine gesamte Bevölkerung ließen sich daraus nicht ableiten; das verletze den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (FR 26.03.20).
Grundrechte schützen den Freiheitsraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt, es sind Abwehrrechte der Bürger*innen gegen den Staat. In zahlreichen Klagen gegen grundrechtsbeschränkende Corona-Maßnahmen nehmen Betroffene diese Abwehrrechte in Anspruch. Hunderte von Gerichtsurteilen sind inzwischen ergangen, die sich mit Rechtsakten des Bundes oder der Bundesländer zur Eindämmung der Corona-Epidemie befassen und weitere werden folgen. Ein Großteil dieser Entscheidungen betrifft Verordnungen, die Grundrechte einschränken, so etwa Kontakt- und Versammlungsverbote, Ausgangsbeschränkungen, Schließung von Geschäften oder Maskenpflicht. Dagegen gerichtete Eilanträge auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung hatten vor den Verwaltungsgerichten zumeist keinen Erfolg, was sich aber in anschließenden Hauptsacheverfahren, zumindest im einen oder anderen Fall, änderte (z.B. bezüglich Quarantänepflicht nach Auslandsaufenthalt) bzw. noch ändern kann.
FORTSETZUNG FOLGT
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Info:
Dr. Rolf Gössner ist Anwalt, Publizist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie Mitglied der Jury zur Verleihung des „BigBrotherAwards“.
Dieser Text in drei Teilen ist die ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist ( HYPERLINK "http://www.ossietzky.net/8-2020&textfile=5113" http://www.ossietzky.net/8-2020&textfile=5113). Die Redaktion.