swrGedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand, Reihe 3/3

Rolf Gössner

Bremen (Weltexpresso) - Elftens: Längst sind die gravierenden wirtschaftlichen Folgen der verordneten Corona-Einschränkungen des täglichen privaten, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in den Fokus geraten und sollen mit einem umfangreichen und milliardenschweren Hilfspaket der Bundesregierung abgemildert werden – was jedoch berufliche Existenznöte und unzählige Existenzverluste nicht verhindern wird. Weit weniger im Blick der öffentlichen Diskussion sind die drohenden sozialen Verwerfungen – besonders bedrohlich für Solo-Selbständige sowie für sozial Benachteiligte, Arme, Obdachlose und Geflüchtete. Die ohnehin schon starke soziale Spaltung der Gesellschaft wird sich mit Sicherheit im Laufe der kommenden Jahre weiter verschärfen, wenn nicht mit effektiven Maßnahmen gezielt politisch gegengesteuert wird. Wie überhaupt gesellschaftlich-strukturelle Probleme, Fehlentwicklungen und Missstände in der Krise deutlicher und verschärft zum Vorschein kommen.

Auch die psychischen und gesundheitlichen Langzeitschäden werden zum gesellschaftlichen Problem: Denn die wochenlangen Kontakt- und Versammlungsverbote, Besuchssperren für Alten- und Pflegeheime, tausendfach verschobene Operationen sowie die weiteren Kontaktbeschränkungen und Verbote im „Lockerungsmodus“ können zu Vereinsamung, sozialer Verelendung und Lebensgefährdungen führen, zu existentiellem Stress und psychischen Störungen, zu Spiel- und Alkoholsucht, zu Depressionen und Suizidgefahr, aber auch zu Aggressionen und häuslicher Gewalt, die schon spürbar zugenommen haben soll. All das sind Risikofaktoren für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit. „Wenn jetzt einzelne Todesfälle verhindert werden, sich dafür aber in den nächsten Jahren die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung erhöht, wäre die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt“, mahnte Stefan Willich, der Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité (Tagesspiegel 24.03.2020).

Zwölftens: Dass in angsterfüllten Zeiten der „Corona-Krise“ und der politisch und massenmedial stark befeuerten Unsicherheit nur wenige nach dem hohen Preis rigider staatlicher Eingriffe fragen, ist angesichts der gesundheitlichen Gefährdungen zwar auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber auf Dauer kurzsichtig. Denn langfristig könnten sich Abwehrmaßnahmen dieser Art auf die Gesellschaft zerstörerischer auswirken als die Abwehrgründe selbst. „Ansteckend ist Corona und ansteckend ist die Angst davor“, schreibt Heribert Prantl („Süddeutsche Zeitung“) Mitte März 2020: „Angst macht süchtig nach allem, was die Angst zu lindern verspricht.“ Aber man müsse doch fragen, „was angerichtet wird, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten stillgelegt und das gesellschaftliche Miteinander ausgesetzt werden.“ Und man müsse „nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen eine Stimmung, die die Grund- und Bürgerrechte in Krisenzeiten als Ballast, als Bürde oder als Luxus betrachtet“. Diese Stimmung ist, trotz vermehrter Unruhe und Gegenrede, noch längst nicht überwunden.

Wenn Gefahr und Verunsicherung nur groß genug erscheinen, dann nimmt der Großteil der Bevölkerung gesellschaftliche und individuelle Einschränkungen und damit zwangsläufig verbundene „Kollateralschäden“ offenbar zustimmend, resignierend oder aber willfährig hin, teilweise auch in vorauseilendem Gehorsam. Anscheinend bekommt die Sehnsucht nach paternalistischer Führung und autoritären „Lösungen“, nach klaren Ansagen und Anordnungen sowohl in Zeiten des Terrors als auch in Zeiten von Corona erheblichen Auftrieb – überhaupt in Zeiten von Krisen, Katastrophen und Unsicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken autoritären Staat ist unüberhörbar. Und die Denunziation vermeintlicher Corona-Sünder hat Konjunktur.

Dreizehntens: Die Akzeptanz der drastischen Einschränkungsmaßnahmen, mit denen extreme Eingriffe in die Freiheitsrechte verbunden sind, ist jedenfalls riesengroß: etwa 90 Prozent der Befragten waren damit ursprünglich einverstanden. Jeder Dritte wünschte sich sogar noch härtere Einschränkungen, Zweidrittel erwarteten noch weitere Verbote zur Vermeidung körperlicher und sozialer Kontakte. Nur acht Prozent der Bundesdeutschen hielten die Maßnahmen für überzogen (SZ 26.03.2020). Der Historiker René Schlott spricht von „erschütternder Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung“, die Außerkraftsetzung von Rechten als alternativlos hinzunehmen, „die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind“. Er spricht angesichts der Kontaktsperren und Versammlungsverbote vom „Rendezvous mit dem Polizeistaat“ und warnt davor, die „offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten" (Augsburger Allgemeine 18.03.2020; Der Spiegel 1.04.20).

Vierzehntens: Doch trotz fortdauernder grundsätzlicher Akzeptanz in der Bevölkerung wachsen Unmut und Unzufriedenheit mit Corona-Beschränkungen, von denen niemand weiß, wie lange sie noch gelten, wann und wie oft sie weiter gelockert oder aber wieder verschärft werden. Es wäre jedoch absolut unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, die ganze Bevölkerung für Monate weitgehend einzusperren – oder gar so lange, bis ein Impfstoff gefunden ist und eingesetzt werden kann, wie es zuweilen zu vernehmen ist. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnt vor der „Erosion des Rechtsstaats“, sollten sich die „extremen Eingriffe in die Freiheit aller“ noch lange hinziehen (faz.net 2.04.20). Politik und Verwaltung seien deshalb verpflichtet, immer wieder ernsthaft zu überprüfen, ob, wann und wo weniger einschneidende Maßnahmen möglich sind. Doch eine offen und demokratisch geführte Debatte über tragfähige, nachvollziehbare Exitstrategien, die aus der Lähmung des öffentlichen Lebens herausführen könnten, sind noch nicht wirklich in Sicht – auch wenn seit 20.04. Lockerungen gelten, die aber mit neuen Verschärfungen verbunden sind, wie dem Zwang, in bestimmten Örtlichkeiten Gesichtsmasken zu tragen oder, wie in der Gastronomie, Kontaktformulare mit persönlichen Daten auszufüllen. Eine öffentliche Debatte um Verhältnismäßigkeit und verantwortbar abgestufte Ausstiegsszenarien ist weiterhin dringend nötig.

Fünfzehntens:
Die Corona-Notstandsmaßnahmen führen mit Sicherheit in eine scharfe Wirtschafts-, Gesellschafts-, Demokratie-, Rechtsstaats- und Verfassungskrise. Und es besteht die Gefahr, dass sie einen Beschleunigungs- und Gewöhnungseffekt auslösen in Richtung Normalisierung von Ausnahmerecht. Vizekanzler Olaf Scholz und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprechen ja bereits von „neuer Normalität“ auf unbestimmt lange Zeit. Zu Recht fragt Heribert Prantl, ob die „Corona-Krise“ wohl „zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen“ werden könnte. Und womöglich nicht nur in Extremsituationen, sondern auch im Alltag. Denn der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, in dem wir schon seit Längerem leben, tendiert dazu, zum rechtlichen Normalzustand der Krisenverhütung und Krisenbewältigung zu mutieren. So wie im Zuge der Antiterror-Aufrüstungspolitik nach 9/11, als der „Ausnahmezustand“ nach und nach verrechtlicht worden ist – mit weitgehend unbefristeten „Sicherheitsgesetzen“, die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als „Notstandsgesetze für den Alltag“ qualifiziert werden können. Nun folgt also die Verrechtlichung des Gesundheitsnotstands; und auch hier droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden – wie es der Soziologe Ulrich Beck angesichts der Entwicklung einer „Risikogesellschaft“, in der wir längst leben, schon Mitte der 1980er Jahre prognostiziert hatte. Jetzt ist höchste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert und die autoritäre Wende sich nicht verfestigt.

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Info:
Dr. Rolf Gössner ist Anwalt, Publizist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie Mitglied der Jury zur Verleihung des „BigBrotherAwards“.

Dieser Text in drei Teilen ist die ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist ( HYPERLINK "http://www.ossietzky.net/8-2020&textfile=5113" http://www.ossietzky.net/8-2020&textfile=5113). Die Redaktion.

Den ersten und zweiten Teil des Artikels finden Sie unter
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https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/19269-grundrechte-demokratie-und-rechtsstaat-in-gefahr