Corona legt die Ignoranz elementarer Sachverhalte offen
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wenn Karikatur und Satire die Empörung jener hervorrufen, die sie gemeint haben, ist das ein Zeichen für die Treffsicherheit, mit der ein Vorgang demaskiert wird.
FR-Karikaturist Thomas Plaßmann ist das mit seiner pointierten Zeichnung „Tresen-Trübsal“ besonders gut gelungen (FR vom 26. Mai): In einer Kneipe sitzen ein einsamer Trinker und ein Corona-Virus mit etwas Abstand am Tresen. Während der Trinker klagt „Keiner mag mich! ...Und Du?“ antwortet das Virus desillusioniert „Keiner nimmt mich ernst!“. Zwei FR-Leserinnen offenbaren mit ihren Zuschriften, welche Kartenhäuser aus Falschinformationen und Ressentiments die Karikatur offensichtlich zum Einsturz brachte.
Hier einige Stichworte aus den Briefen: „Was will uns das sagen? Dass jeder, der neben den Vorsichtsmaßnahmen auch andere Lebensqualitäten im Blick hat, dümmlich-sorglos ist?“ „Die Ausbrüche in Frankfurt und Leer sind im Grunde eine gute Nachricht, denn niemand ist ernsthaft erkrankt.“ „Wann sollen die Menschen denn wieder normal leben, wenn nicht jetzt?“ „Es sind die Angst und die Beschimpfungen seitens der Sorgengeplagten, mit der alle Entspannten als potenzielle Lebensbedroher oder egoistische Menschen dargestellt werden.“ „Leben bedeutet immer, Risiken einzugehen.“ „Ich wähle meistens Grün und halte Corona für gefährlich. Aber weitaus gefährlicher ist, wenn vom Leben nur noch Handy, Fernsehen und Alleinsein übrigbleibt.“ „Die vielgepriesenen Lockerungen genießen doch fast nur Privilegierte. Die eingesperrten Menschen in den Heimen verstehen die Welt nicht mehr.“ „All das müssen wir besprechen und auch ganz viel aufklären. Wo, wenn nicht auf der Corona-Demo?“
Ich bewege mich mal durch das Gestrüpp an Falscheinschätzungen und Vorurteilen. Und stoppe zunächst bei der vermeintlichen Alternative zwischen „Vorsichtsmaßnahmen“ und „anderen Lebensqualitäten“. Die infrage gestellte Vorsicht ist eine Verhaltensregel mit zwei Komponenten: Besonnenheit im eigenen Interesse und Rücksicht auf andere. Welche Lebensqualitäten kann es daneben noch geben? Unendlich viele. Auch die intellektuelle Reflexion über alle Tatsachen des Lebens mündet in die genannten humanen Verhaltensweisen ein. Die bewusste Auseinandersetzung mit den durch Corona-Covid-19 verbundenen Gefahren schützt sowohl vor unbegründeter Angst als auch vor fahrlässigem Leichtsinn.
Die Bewertung des Infektionsgeschehens in einer evangelikalen (fundamentalistischen) Gemeinde in Frankfurt und in einem Kneipenmilieu in Leer fügt sich in ein Weltbild, das alles ausspart, was nicht in die persönliche Reduktion der Wirklichkeit passt. Gemäß dem Motto „Alles noch mal gut gegangen“ wird nicht näher nachgefragt nach Schweregrad und möglichen Folgen der Erkrankungen (inklusive der Übertragung des Virus an Unbeteiligte). Auch die Vorstellung, dass „dem Virus in drei bis vier Jahren die Puste ausgeht“ zeugt von einer extrem schlichten Sicht auf die Dinge. Das Virus ist bei den Menschen angelangt, weil diese unvorsichtig waren und es wird bei ihnen bleiben. Man kann anscheinend durch Schutzmaßnahmen seine Verbreitung eindämmen und möglicherweise sogar regional austrocknen. Und vielleicht stehen früher oder später Impfstoffe und Medikamente zur Verfügung, deren Nebenwirkungen vertretbar sein könnten.
Ebenso ist der konstruierte Gegensatz von Entspannten und Sorgengeplagten oberflächlich. Die so genannten Entspannten haben die furchtbare Nachricht mutmaßlich noch nicht vernommen (um ein Bild von Brecht zu gebrauchen) und fühlen sich grundlos sicher. Die Besorgten hingegen haben entweder konkrete Erfahrungen mit dem Virus gemacht oder verfügen über valide Informationen, um sich das Elend ausmalen zu können. Aus diesen gegensätzlichen Verhaltensweisen ein Schwarz-Weiß-Denken abzuleiten, das Verschwörungsideologen auf den Plan rufen könnte, ist doppelt falsch. Denn der Gegensatz lautet nicht schwarz oder weiß, sondern verantwortlich und unverantwortlich. Verschwörungsfantasien sind gekennzeichnet durch Nichtwissen, Verantwortungslosigkeit und fehlende ethische Grundsätzen. Allein darum handelt es sich nicht um Theorien, sondern um menschliche Fehlentwicklungen, die neben politischer Aufklärung auch einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.
Die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, wäre dann zu rechtfertigen, wenn dieses in keinem Fall zu Lasten anderer ginge. Doch die Welt der Tatsachen belegt das Gegenteil. Wer dem Alkohol und anderen Rauschgiften erlegen ist, zieht seine Umwelt in Mitleidenschaft. Wer gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt, verletzt und tötet nachweisbar oft auch Schuldlose. Wer Corona für eine harmlose Erkältungskrankheit hält, deswegen leichtsinnig wird und die Verbreitung des Virus ermöglicht, ist nicht mutig, sondern ungebildet und es mangelt ihm an Charakter.
Auch die anderen zitierten Passagen aus den Zuschriften illustrieren den unerschöpflichen Vorrat an mangelhafter Information, der in der Bevölkerung grassiert. Wieder sind es die falschen Alternativen einschließlich der Parteienpräferenzen. Wer den Grünen regelmäßig seine Stimme gibt, ist weder zwangsläufig nachdenklich noch progressiv. Vielmehr unterstützt er/sie eine Partei, die seit ihrer Gründung das Ausweichen vor Problemen und nicht deren Lösung zum Programm hat. Heute sind die hessischen Grünen ein Beispiel für diese Verweigerung. Rudi Dutschke hatte bereits 1979 während der Gründungsphase der ersten Landesverbände vor solchen Tendenzen gewarnt.
Ebenfalls bemerkenswert ist die beschriebene Rangfolge der Gefahren. Corona sei zugegebenermaßen gefährlich, viel gefährlicher aber sei, wenn vom Leben nur noch Handy, Fernsehen und Alleinsein übrigblieben. Die Beschränkung auf solche und ähnliche Lebensschwerpunkte dürfte bereits vor Corona Alltag bei denen gewesen sein, die heute darüber klagen. Die Seuche macht diese selbstgewählten Fluchten nur noch deutlicher. Das gegenwärtige Leben mit Abstandhalten und Maske mag umständlich sein, aber ich erkenne darin keine wirklichen Stressfaktoren und keine Wege in die Vereinsamung. Die auch hier wieder als Zeugen benannten Menschen in Pflegeheimen leiden unter Bedingungen, die tatsächlich andere Ursachen haben. Sie sind alters- und vorerkrankungsbedingt schutzloser gegenüber einer Virusinfektion. Und sie sind die Opfer von Personalknappheit und Organisationsdefiziten (inklusive Regelung von Besuchen) in den Einrichtungen. Corona bringt lediglich an den Tag, was seit langem bekannt ist und was genauso lange hingenommen wird, weil Altenpflege zu einem Geschäftsmodell wurde.
Der Hinweis der Leserin auf den aufklärerischen Charakter von Corona-Demos trägt unbeabsichtigt satirische Züge. Wenn sich Irrsinn, Nichtwissen und Faschismus austauschen, sind gesellschaftliche und gesundheitliche Katastrophen vorprogrammiert.
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