Thorsten Latzel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Seine Kleidung ist noch feucht vom Jordan-Wasser. Eben erst hat ihn Johannes getauft. Mitten im aufgewühlten, schlammigen Wasser. Seite an Seite mit all den anderen: Zweiflern, Sündern, Frommen. Auch wenn er Johannes dazu erst hatte überreden müssen: „Du doch nicht.“
Auch als Gottes Sohn ist er noch feucht hinter den Ohren. Eben erst ist es ihm widerfahren: Der Himmel - grenzenlos offen über ihm. Die Stimme - „Du bist mein lieber Sohn“. Der Geist - wie eine Taube, die auf ihn herabkommt. Und dann geschieht es. Als allererstes, wohlgemerkt, nach seiner Taufe. Nachdem er dies alles erfahren hat: Eben jener Geist Gottes führt Jesus in die Wüste, damit er versucht würde.
Man muss sich klarmachen, wie gewagt es ist, seine Erzählung so zu beginnen. Was das theologisch beinhaltet: dass Gott versucht - von wegen „und führe uns nicht in Versuchung“; dass Gott versuchbar ist; dass Gott sich selbst - in seinem Sohn, durch seinen Geist - versucht oder genauer versuchen lässt. Der Weg Jesu Christi beginnt mit einer Auseinandersetzung in Gott. Mit dem Streit darum, was es heißt, Gottes Sohn zu sein.
„Bist du Gottes Sohn, dann ...“ Wie ein cantus firmus durchzieht der Satz die Versuchungsgeschichte.
Drei Mal bietet der Satan als eine Art himmlischer Staatsanwalt, ein „Verwirrer vor dem HERRN“ (diabolos), eine Deutung an, was das heißen könnte: „Bist du Gottes Sohn, dann ...“ Und er tut dies theologisch versiert mit Verweis auf Stellen der Heiligen Schrift. Drei Versuchungen eines anderen religiösen Gottes- und Selbstverständnisses. Drei Versuchungen, mit denen Jesus sich selbst als Gottes Sohn, als Christus verfehlen würde.
Markus führt die Versuchungen nicht näher aus. Bei ihm heißt es nur summarisch: „Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm.“ (Mk 1,12f.) Wie in einer Filmszene sieht man nacheinander die Protagonisten eingeblendet: Satan, die wilden Tiere, die Engel. Das eigentliche Geschehen in der Wüste aber bleibt verborgen. Anders Matthäus und Lukas. Sie schildern ausführlich, worin die dreifache Versuchung besteht. Nur in ihrer Reihenfolge unterscheiden sie sich. Es geht um Herrschen, Schweben und Zaubern. Darin spiegeln sich zugleich drei religiöse Grundversuchungen des Glaubens. Wie gesagt: Es geht um den Weg nach der Taufe, nicht davor. Jesus nachzufolgen, heißt, in die Wüste zu gehen. Sich vom Geist an den Ort der Versuchung führen zu lassen. Die Versuchung Jesu als eine Grammatik religiöser Versuchung: andere Weisen Jesu, sich selbst als Christus zu verstehen - aber eben auch andere Weisen von uns, Jesus als Christus zu verstehen und uns selbst als Christen. Und die Kirche als Gemeinschaft der Christen.
Ich glaube, dass man die Versuchung Jesu in ihrer Tiefe nur wirklich versteht, wenn man sie als „Anti-Passion“ begreift. Es geht am Anfang des Evangeliums um das Ende. Um drei religiöse Wege, mit denen die Geschichte - nach innerweltlichen Maßstäben - hätte „gut“ ausgehen können. Ohne Passion und Kreuz. Mit einem religiös erfüllten, langen Leben Jesu: satt, reich, mächtig, einflussreich, wohltäterisch, sozial engagiert, spirituell beseelt, ganz bei sich. Wer wollte das verachten? Drei Wege am Kreuz vorbei. Und auch vorbei an den anderen aus dem schlammig, aufgewühlten Wasser im Jordan. Die anderen spielen bei den drei Versuchung auffälliger Weise keine Rolle. Anders als in der Passion. In der Leidensgeschichte Jesu gibt es zu jeder Versuchung eine Gegengeschichte, in der diese anderen von zentraler Bedeutung sind.
Die erste Versuchung ist, zu zaubern: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Die magische Verwandlung der Wirklichkeit. Der Traum aller Alchemisten. Aus Stroh Gold spinnen. Aus Steinen Brot. Stein-brot-reich. Essen wie von Zauberhand. Ein Tischlein-Deck-Dich. Genug für alle - zumindest, wenn die mit der Zaubermacht dies wollen. Es ist die Versuchung der Religion, mit Wunderkräften die Gesetze der Natur zu verändern. Auch in der Corona-Zeit war dies zu erleben, wenn Fundamentalisten verschiedener Konfessionen glaubten, der Ansteckungsgefahr von Viren durch religiöse Kräfte begegnen zu können. Eine Ignoranz der Schöpfung Gottes, so wie sie ist. Jesus verwandelt die Steine nicht zu Brot. Er wird seine Jünger/innen später lehren, das vorhandene Brot zu teilen. Mit der auf ganz andere Weise wundersamen Erfahrung, dass es genug für alle gibt. Und er wird sich selbst am Ende seines Weges im Brot den anderen hingeben: „Nehmt und esst, mein Leib, für euch gegeben.“ Statt der magischen Verwandlung von Steinen zu Brot die liebende Selbsthingabe im Akt des Teilens von Brot und Wein. Christus ist gegenwärtig in der Handlung, im Nehmen, Brechen und Geben des Brotes. Das ist die erste Versuchung der Religion: die Welt zu verwandeln anstatt sich selbst - Magie an Stelle von Liebe.
Die zweite Versuchung ist, zu schweben: „Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab.“ Der Sprung von den Zinnen des Tempels - im Vertrauen auf den himmlischen Schutz der Engel. „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Ein tiefer menschlicher Wunsch nach religiöser Rück-Versicherung, nicht von ungefähr einer der beliebtesten Taufsprüche. Ging es bei der ersten Versuchung um magisches Zaubern, so zielt diese auf ein esoterisches Schweben. Spirituelle Schwärmerei. Abgehoben von der Schwerkraft in höhere mystische Sphären. In der Pandemie war dies erlebbar, wenn eigenes und fremdes Leben unnötig riskiert wird - als vermeintlicher Akt besonderen Glaubens. Wenn fahrlässige Naivität mit kindlichem Gottvertrauen verwechselt wird.
Jesus wird später sein Leben riskieren. Aber statt eines Schwebens wird er sich festnageln lassen. Statt des selbstsüchtigen Sprungs von den Zinnen der Gang zum Kreuz - in letzter Gemeinschaft mit den beiden Verurteilten neben ihm. Die Engel werden ihn nicht bewahren - weder vor den Steinen auf dem Weg noch vor den Misshandlungen der Römer. Statt spiritueller Entrückung der Abstieg in die Tiefe der Gottverlassenheit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und gerade darin erfüllt sich - wie der römische Hauptmann feststellt - paradoxer Weise Jesu Bestimmung: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Er ist Gottes Sohn, indem er Gott und sein Leben verliert, um an der Seite der anderen zu bleiben. Das ist die zweite Versuchung der Religion: selbstsüchtig spirituelles Schweben statt des Gangs hinab in die Tiefe der Gottfinsternis - aus unbedingter Solidarität mit den Schächern zur Linken und Rechten.
Die dritte Versuchung ist, zu herrschen. „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Bei dieser Versuchung geht es nicht mehr darum, was es heißt, Gottes Sohn zu sein. Sondern darum, wie viel es wert ist. Im Vergleich zu „allen Reichen der Welt und ihrer Herrlichkeit“. Wie viel sind sie wert: der Glaube, die innere Überzeugung, das eigene Gewissen? Die verführerische Nähe von Thron und Altar. Mit der langen Geschichte verschiedenster unseliger Verquickungen - von gottgleichen Kaisern, Gottesgnadentum und Theokratien. Jede Religion und Konfession hat dabei ihre eigenen Gefahren. Im deutschen Protestantismus war es oft eine zu unkritische Nähe zu den Herrschenden - sei es im Kaiserreich, in der NS-Zeit oder auch in der Demokratie. Etwas Streberhaftes. Die Über-Erfüller des Mainstreams, der sozial-pädagogische Primus, natürlich auch in Zeiten der Pandemie. Dies reicht mitunter bis zur Selbstsäkularisierung: dem Unvermögen, existentiell relevant von Jesus Christus zu sprechen.
Jesus wird später niederfallen und anbeten. Nur ein einziges Mal wird dies von ihm erzählt. Im Garten Gethsemane, als er bittet, dass das Leid - so Gott will - an ihm vorübergehe. Kein Kotau im Interesse eigener Macht. Sondern ein Gebet, um die Ohnmacht auszuhalten. Nicht vor dem oder den vermeintlichen „Fürsten dieser Welt“. Sondern vor dem „Schöpfer Himmels und der Erden“. Vor dem Vater, dessen Gegenwart er bald nicht mehr spüren wird. Ein Gebet zu Gott, um in die Tiefe ohne Gott zu gehen - und um für andere so im Tod nahe zu sein. Und genau darin erfüllt sich paradoxer Weise Jesu Berufung: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“
„Bist du Gottes Sohn, so steig herab.“ Die Spötter, die an Jesu Kreuz vorübergehen, werden die Stimme des Versuchers aus der Wüste wieder aufnehmen. Und sie bringen so alle anderen Versuchungen auf ihren eigentlichen Punkt: das Kreuz zu vermeiden. Es gibt keine Gotteskindschaft ohne die Erfahrung dieser tiefen Verletzlichkeit: sich selbst unbedingt hinzugeben - an die anderen aus dem Jordan - aus der einen, alles bestimmenden Liebe Gottes heraus. Und das ist es auch, was wir theologisch zu der Pandemie beitragen können: anders damit umgehen zu können, dass unser Leben verletzlich ist, zutiefst verletzlich. Unser eigenes und fremdes. Dazu braucht es kein Herrschen, Schweben oder Zaubern. Sondern den Mut, sich selbst für andere hinzugeben. Sein eigenes Leben zu teilen wie das tägliche Brot. In einem Akt liebender Ohnmacht.
Und führe uns in Versuchung
Führe uns in Versuchung, Gott,
damit wir den falschen Bildern
widerstehen:
von Dir, von uns, von den anderen.
Aber lass uns, Gott, in der Wüste
nicht allein,
wenn die Stimmen locken:
„Herrsche!“ „Schwebe!“ „Zaubere!“
Leite uns, Gott, auf dem Weg
den Jesus gegangen ist:
in mutig trotzig verwegener Liebe
zu den anderen, zu uns selbst, zu Dir.
(TL)
Foto:
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Info:
Dr. Thorsten Latzel ist Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche in Frankfurt
Weitere Texte finden Sie unter:
www.glauben-denken.de
www.queres-aus-der-quarantaene.de