Berührender Einblick in die Corona-Wirklichkeit
Ute Meyerdierks
Leipzig (Weltexpresso) - Redaktionelle Vorbemerkung: Den nachfolgenden „ironischen Stoßseufzer“ schickte uns eine Krebspatientin mit der Bemerkung, er sei im Bekanntenkreis ganz unterschiedlich aufgenommen worden. Die Ältern hätten mitfühlend auf die Beschreibung der Corona-Wirklichkeit reagiert, die Jüngeren dagegen hätten, bis auf ihre 30jährige Nenntochter aus dem Kamerun, wenig Verständnis für ihre Schilderung gezeigt und nur gemeint , sie solle doch froh sein, dass so umsichtig für sie gesorgt werde. Wie soll man sich diese unterschiedliche Reaktion erklären? Ob unseren Leserinnen und Lesern dazu etwas einfällt?
Du stehst vor der Eingangstür der Klinik: ein Smilie-Bild mit Mundschutz mahnt dich:
"Verantwortung tragen" Am Morgen geht der Maskenball los. Beim Fahrstuhl ein Zettel: "Wir bitten, die Fahrstühle nur noch einzeln zu benutzen." Vor dem Speisesaal nimmst du deine Maske ab, wirfst sie in einen Behälter und bekommst mit Zange eine neue überreicht. Dein Tisch im Speisesaal ist gleich vorne links. Aber nein, du gehst nicht direkt dorthin. Du folgst den roten Pfeilen auf dem Boden, erst rechts, dann links, noch mal links und noch mal links, durchdachte Choreographie. "Verantwortung tragen".
Am Tisch lässt du dich nieder. Maske erst mal ab. "Guten Morgen, Frau G.", sage ich zu meiner Tischnachbarin schräg gegenüber, durch eine Glaswand von mir getrennt. Dann Maske wieder anziehen, Tanz zum Buffet, Abstand halten, warten. "Bitte nur einzeln an das Buffet treten." Teller und Becher beladen, dann wieder die maskierte Choreographie durch den Speisesaal.
Nach dem Essen willst du im Stationszimmer etwas mit den Schwestern besprechen. "Bitte nur einzeln und mit Maske betreten!" Dann führt dein Weg dich zur Ärztin. Vor ihrem Sprechzimmer eine feste Stuhlreihe mit vier Stühlen. Stuhl 1, 2 und 4 tragen Schilder: "Ich darf leider nicht benutzt werden!" Stuhl 3 trägt den Zettel: "Ich bin ein Sitzplatz!" Die Ärztin öffnet erst mal die Tür weit und lässt die Aerosole heraustanzen. Sie setzt sich dir gegenüber in drei Meter Abstand. Masken ab. Dann will sie deine Bauchnarbe sehen. Also hinlegen, Bauch entkleiden, Gesicht bekleiden. Ähnlich bei der Massage: nackter Oberkörper, bedecktes Gesicht. "Verantwortung tragen."
Am Nachmittag gehst du ins Café. Selbstbedienung. Eine rote Kordel und eine Plexiglasscheibe trennen dich von den Frauen, die Kaffee und Kuchen ausgeben. Auf deinem Tisch ein Schild: " Bitte halten Sie mindestens 1,5 m Abstand von Ihren Mitmenschen."
An der Tür der Boutique nebenan ein Schild: "Bitte nur einzeln eintreten!" Schließlich gehst du zur Meditation in einem großen Saal mit wenig Menschen. Alle tragen keine Masken, aber Verantwortung und sitzen weit auseinander. Die Therapeutin spricht so leise, dass du nichts verstehst in dem großen Raum. Am Ende zerstreuen sich alle schnell: Abstand halten!
Am Abend gehst du in dein Zimmer, wirfst die Maske in die Ecke und genießt den Blick aus dem riesigen Fenster in den Corona-freien Himmel.
Foto:
Dies ist natürlich nicht der im Text beschriebene Speisesaal und stellt natürlich nicht unsere Autorin dar
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