istanbul tourist informationcomDer unaufhaltsame Aufstieg des Recep Tayyip Erdogan

Elvira Grözinger

Berlin (Weltexpresso) - Die Welt ist diese Tage in Aufruhr geraten, die Intellektuellen sind aufgeschreckt: Das Symbol des christlichen Abendlandes, die Hagia Sophia, 537 als römische Reichskirche in der Kaiserstadt am Goldenen Horn eröffnet, wurde von Recip Erdogan, dem jetzigen Herrscher der Türkei, aus einem Museum (1935-2020) wieder in eine Moschee verwandelt, wie sie von 1453 bis 1931 war. Unter Konstantin I. oder dem Großen (272-337), dem ersten christlichen Kaiser, wurde die damals tausendjährige Stadt Byzantion in Konstantinopel umgetauft und ist zum „neuen Rom“, einem Zentrum der auf der Antike aufbauenden christlichen Kultur des Mittelalters und der politischen Macht geworden.

Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II. von 1453-1458) evozierte die einst glorreiche Vergangenheit der damals unter osmanischer Herrschaft zu Istanbul umbenannten Stadt (aber dennoch weiterhin bis in die 1920er Jahre als Konstantinopel bekannt) mit diesen Worten: „Weil dort das Heim der Wissenschaften war, kann keiner der Lateiner genügend gebildet erscheinen, wenn er nicht für einige Zeit in Konstantinopel studiert hat.“

Die Geschichte von Byzanz, der Hagia Sophia und der byzantinischen Kunst, eng miteinander verwoben, war wechselhaft. Die frühbyzantinische Kunstperiode (330-730), die in der Hagia Sophia ihren führenden Platz in der christlichen Kultur einnahm, ging mit dem sogenannten „Bilderstreit“ zu Ende. Kaiser Leon III. hatte 730 ein Verbot erlassen, Bilder religiösen Inhalts in den Kirchen zu haben oder herzustellen. Die durch die daraus resultierende Zerstörung kirchlicher Kunstwerke dauerte bis 780. Die Ikonoklasten wurden jedoch im Jahr 842 durch die Ikonodulen (Bilderfreunde) besiegt, allerdings waren da fast alle Kunsterzeugnisse dieses Zeitraums vernichtet. Die Kunstproduktion verlagerte sich jedoch und überdauerte z. B. in Palästina. In der mittelbyzantinische Kunstperiode (843-1204), die bis zum 4. Kreuzzug (1202-1204) dauerte, entstanden weitere wichtige Bauten und Werke. Mit der Rückeroberung von Konstatinopel 1261, die eine Wiedererrichtung des lateinischen Kaisertums mit sich brachte, begann die dritte und letzte, spätbyzantinische Kunstperiode (1261-1453). Sie war jedoch politisch unruhig und nicht mehr so glanzvoll und wurde durch die osmanischen Eroberer beendet. Der Halbmond hat damals das Kreuz in der alten Patriarchenkirche Hagia Sophia ersetzt. Die Kunstwerke und Schriften aber wurden in den Klöstern wie auf dem Berg Athos, in den Meteora-Klöstern in Thessalien sowie auf der Insel Kreta, die damals unter venezianischer Herrschaft stand, gerettet und werden bis heute aufbewahrt.

Hagia Sophia, bis heute das Wahrzeichen Istanbuls, wurde mehrfach von verschiedenen christlichen Denominationen (Römische Reichskirche, Orthodox, Römisch-Katholisch Griechisch-Orthodox) benutzt. Nach den Jahrhunderten als Moschee hat der Säkularisierer und erste Präsident der Republik Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1923-1938), im Jahre 1934 die Moschee in ein Museum umgewandelt. Seit dem 24. Juli 2020 ist sie wieder eine Moschee.

Als ich 1968 Istanbul besuchte, gehörte die Hagia Sophia neben der Blauen Moschee zum festen Besichtigungsprogramm für Touristen aller Religionen. Aber sie ist nicht die einzige Hagia Sophia genannte Kirche in der Türkei, die in eine Moschee verwandelt wurde. In ihrem Aufsatz von 2018 „Contesting Byzantine Past: Four Hagia Sophias as Ideological Battlegrounds of Architectural Conservation in Turkey” nannte die an der Columbia Universität in den USA lehrende Pinar Aykac schon damals folgende Museums-Kirchen, die neben der Istanbuler Hagia Sophia auf Erdogans Reislamisierungsliste standen und welche bereits umgewandelt wurden: die Hagia Sophia in Trabzon, Iznik und Vize. Diese Umwandlungen wurden offensichtlich von der Weltöffentlichkeit und den kirchlichen Autoritäten nicht wahrgenommen und dienten offenbar als Test für den Fall der Usurpierung der berühmtesten Stätte unter ihnen und zugleich eine der bedeutendsten kulturellen und historisch wertvollsten der Welt, die nun erfolgt ist.

Zuvor, am 10. Juli 2020, dem Jahrestag der Vollendung von Atatürks Kulturrevolution im Jahre 1928, hat das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei den Kabinettsbeschluss von 1934 annulliert und damit den Status der Kirche als Museum beendet, ihrer Wiedernutzung als Moschee 84 Jahre nach ihrer Säkularisierung den Weg geebnet. Am letzten Freitag strömten Hunderttausende aus dem ganzen Land zum ersten Gebet in die neue Moschee. Es war ein großer, symbolträchtiger und werbewirksamer Auftritt für den 66  Jahre alten Präsidenten, sicherlich auch ein weiterer großer Schritt auf seinem Weg zum ersehnten Status als der neue Sultan des wiederauferstandenen Osmanischen Reiches und somit  zugleich als der Führer der Sunniten in einem islamischen Gottesstaat. Nicht umsonst zitierte er den Sultan Mehmed II. (,, posthum Fatih genannt), den Eroberer von Konstantinopel, der die Hagia Sophia zu einer Moschee umgewandelt hatte.

Wen das überrascht, der hat die besorgniserregende Entwicklung der Türkischen Republik unter der Regierung AKPs verschlafen. Das bisher auf dem Papier gemäß der Verfassung als „demokratischer laizistischer und sozialer Rechtsstaat“ beschriebene Staatsgebilde, verwandelt sich aber de facto seit Langem in einen diktatorisch regierten und zunehmend religiösen Staat: Die Türkei hat die Anerkennung und den Schutz von Minderheiten, 1923 im Vertrag von Lausanne festgelegt, bereits während der Pogrome des Jahres 1955 in Izmir, Ankara und Istanbul verletzt und außer Kraft gesetzt, als christliche, insbesondere griechische Bürger, sowie Armenier und Juden dem Mob zum Opfer fielen.

Die Reislamisierung der türkischen Republik hängt eng mit dem sich verstärkenden türkischen Nationalismus zusammen, der sich auch schon 1983 entlud, als die Türkei, Nordzypern annektierte und bis heute zu keiner Lösung bereit ist. Bei dem ersten Freitagsgebet in der Hagia Sophia betete nun der höchste islamische Geistliche des Landes für die „heilige Nation“ der Türkei. Wie schon international bemerkt wurde, betrachten die arabischen Muslime die Wiederöffnung der Hagia Sophia-Moschee als den ersten Schritt zur Rückoberung der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Die westlichen Beobachter bevorzugen, an die Erdogan‘sche Taqiyya-Version des religiösen Pluralismus und die religiöse Toleranz im Osmanischen Reich  zu glauben, sowie an die Versprechen, die christlichen Mosaiken in der Moschee dort zu belassen und sie nur, wie bei dem Staatsakt am Freitag, für die Gebetszeiten zu verhängen. Doch diesbezügliche Skepsis ist angebracht. Ikonoklasten pflegen sich nicht an Versprechen zu halten.

Die Inszenierung der religiösen wie politischen Macht des Islam und des Regimes, wie sie am letzten Freitag vorgeführt wurde, lässt in ihrer Deutlichkeit wenig Zweifel. Es ist eine direkte Antwort auf die christlichen und herrschaftlichen Elemente, die Konstantinopel und sein Symbol, die Kaiserkirche, darstellten. Die Tatsache, dass das Oberhaupt der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Imam Ali Erbas, an die Kanzel (Minbar) der Moschee mit einem Schwert in der Hand herantrat, ist nach kundigen Beobachtern eine Drohung nach Innen wie nach Außen, die er auch verbalisierte, indem er Erdogan sekundierte: „Sultan Fatih hat diesen prächtigen Tempel bis zum Jüngsten Tag zur Moschee erklärt. Wer sich gegen dieses Erbe wendet, wird verdammt sein“, wie David Engler aus Istanbul in der „Zeit“ berichtete.

In Deutschland ist Diyanet (bzw. DITIB, die staatliche Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) ein eingetragener Verein mit Sitz in Köln und Dachorganisation für über 900 Vereine und große Moscheen, so in Köln-Ehrenfeld und Essen. Die größte und mit 30 Millionen recht kostspielige DITIB-Moschee mit Platz für 1.100 Besucher eröffnete Erdogan im September 2018 in Köln persönlich. Es sind alles Gesten, die kein gutes Gefühl für die Zukunft vermitteln, zumal sie, so die Kritiker, oft die Namen von muslimischen Eroberern tragen. Es ist wieder an der Zeit, den „kranken Mann vom Bosporus“ sehr genau zu beobachten. Wiederholt sich nun die Geschichte?


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