Geführt von Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke) war nach eigenem Eingeständnis nicht dabei, als Alexej Nawalny vergiftet wurde.
Deswegen kenne sie auch den oder die Täter nicht, äußerte sie in der Talk-Runde von Anne Will am letzten Sonntagabend. Ihr sei nur das bekannt, was Gegenstand der allgemeinen Berichterstattung sei. Nämlich dass Nawalny mit einem Gift der Nowitschok-Gruppe vergiftet wurde. Die von den anderen Teilnehmern der Runde erörterten Zusammenhänge zu ähnlichen Giftattentaten in London oder zum Mord an einem Georgier im Dezember 2019 in Deutschland lehnte sie als „hochgradig spekulativ“ ab und warnte vor Vorverurteilungen. Doch damit nicht genug. Ihre anschließende Argumentation war von geradezu halsbrecherischer Akrobatik. Denn dieses Gift sei in den Neunzigerjahren auch in die Hände des Bundesnachrichtendienstes und anderer westlicher Geheimdienste gelangt. Daher könne man derzeit keine Rückschlüsse zur Herkunft des Giftes und zur Täterschaft ziehen. Objektiv mag das mit den Geheimdiensten stimmen. Aber jeder andere von Anne Wills Diskutanten und mutmaßlich die Mehrheit der Zuschauer sahen darin den Versuch, von einer möglichen Verantwortung Putins abzulenken.
Doch warum redet eine hochrangige Politikerin der Linken solchen Unsinn? Denn Putin ist bis heute der größte Nutznießer jener Systemveränderung, die mit der Zerschlagung der Sowjetunion und der Abkehr vom autoritären Staatssozialismus endete. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass Putin die Neuerrichtung einer sozialistischen Ordnung betriebe, die nunmehr auf Gerechtigkeit und Demokratie setzte. Ganz im Gegenteil. Alles deutet auf einen Stalinismus ohne Ideologie, aber mit erzkapitalistischem Einschlag hin.
Falls die Linke einen Vorzeigefeind benötigen sollte, wäre Wladimir Putin die Idealbesetzung. Er hat den Sozialismus verraten, die Sowjetunion als Gegenspieler der imperialistischen USA aus der Weltpolitik herausgenommen und einen weltweiten neoliberalen Aufbruch faktisch ermöglicht. Er beutet die Ressourcen seines Landes brutal aus und kümmert sich weder um Nachhaltigkeit noch um das Klima. Er steht an der Seite von Kriegsverbrechen wie Assad und lässt Menschen bombardieren, die sich nicht dagegen wehren können. Demokratische Bestrebungen waren seit den „Säuberungen“ der 1930er und 1940er Jahre selten so bedroht wie im heutigen Russland. Zu allem Überfluss verbindet ihn eine Männerfreundschaft mit Gerhard Schröder, dem Verräter an der deutschen Sozialdemokratie.
Falls die Linke davor warnen würde, dass gesamte russische Volk mit Putin gleichzusetzen, so wäre das ernst zu nehmen. Stattdessen setzt sie die demokratische Opposition in Russland dem Verdacht aus, die fünfte Kolonne einer neoliberalen Weltverschwörung zu sein. Diese Partei muss an sich arbeiten. Es reicht nicht aus, die Spießbürgermentalität der SED abzustreifen. Links zu sein ist in erster Linie eine geistige, eine intellektuelle Haltung. Den Geist einer solchen dringend gebotenen Erneuerung sehe ich noch nicht.
Foto:
Alexej Nawalny
© tagesschau.de
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Das kritische Tagebuch
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Eine Kolumne in www.weltexpresso.de
und www.bruecke-unter-dem-main.de
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