Bildschirmfoto 2020 10 12 um 02.47.08Ein Nord-Süd-Missverständnis

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso)- Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart / Campus Verlag, Frankfurt 2004


Dazu Hans-Martin Lohmann am 10.01.2005 im Deutschlandfunk:

„Alain Ehrenbergs Buch ruft zwar kein neues Zeitalter aus. Wohl aber lenkt es die Aufmerksamkeit des Lesers mittels einer Vielzahl sowohl klinischer als auch allgemein sozialer Befunde auf die schwer zu übersehende Tatsache, dass in den heutigen westlichen Gesellschaften depressive Stimmungen und Verstimmungen in der Bevölkerung massiv zugenommen haben, die nach einer Erklärung geradezu schreien. Der Pariser Soziologe macht sich anheischig, das unheimliche Phänomen der Depression sozial-historisch und begrifflich einzukreisen und es in einen konsistenten gesellschaftstheoretischen Kontext zu rücken.“

In einem taz-Interview (14.07.2008) sprach Alain Ehrenberg von einer Gesellschaft, nämlich der sogenannten entwickelten Gesellschaft, für die der Wert individueller Autonomie zentral ist, und er meinte, man müsse die Frage stellen, „unter welchen Bedingungen die Menschen überhaupt zum autonomen Handeln fähig sind“.

Als jemand, der knapp 30 Jahre unter afrikanischen Menschen lebte und arbeitete (www.radiobridge.net), also als jemand der aus einer „Erlebnisgesellschaft“ des Nordens in eine „Überlebensgesellschaft“ des Südens kam, nehme ich Ehrenbergs Feststellung als einen entscheidenden Hinweis auf das fortdauernde Missverständnis bei Versuchen nördlicher Medien, die katastrophale politische Situation etwa in Zimbabwe zu erklären. Dort, so wurde unterstellt, müsse nur ein Diktator von der Bühne verschwinden, dann würden bald demokratische Spielregeln gelten. Ich möchte auf eine in diesem Zusammenhang wesentliche Nebenbemerkung Ehrenbergs verweisen: „Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im Vordergrund stehen, haben andere Sorgen.“

Viele afrikanische Gesellschaften, darunter jene in Zimbabwe, in der ich lange lebte, haben andere Sorgen. Im Mittelpunkt ihrer Überlebensanstrengung steht dabei nicht das Lebensziel „individuelle Autonomie“. Erziehungsziel, schon bei der Organisierung familiären Überlebens, ist vielmehr die Einpassung in ein System, das nach wie vor „mechanischen Gehorsam“ erfordert. Dieses System ist nicht demokratisch, kann es gar nicht sein, weil – mit oder ohne Diktator – die ökonomischen Voraussetzungen zur freien Entfaltung autonomer Individuen fehlen. Solange Gesellschaften ihr Überleben dadurch sichern müssen, dass sie autonomes Handeln ihrer Mitglieder gesellschaftlich ächten, bleiben Spielregeln zur Bewältigung ihrer individuellen und gesellschaftlichen Konflikte – wie sehr von Lehrmeistern nördlicher Demokratien auch gewünscht, und durch Sanktionen eingefordert – undemokratisch.

Demokratisch zu leben bleibt für die Mehrheit von Menschen in einer „Überlebensgesellschaft“ deshalb unvorstellbar, weil mit oder ohne Diktator individuelle Depression in permanentem Mangel zu bewältigen ist. Wenn Menschen um ihr Überleben kämpfen, sind sie selten demokratisch.

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