Thorsten Latzel
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Winning is easy. Losing is never easy. Not for me. It’s not.“ Vielleicht war dies einer der aufrichtigsten Sätze, die Donald Trump während der Wahlnacht vom dritten auf den vierten November geäußert hat. Dabei gehört dies zu den fundamentalsten Fähigkeiten eines jeden Politikers in einer Demokratie überhaupt: verlieren zu können, ohne verlieren zu wollen. Ohne das ergeben Wahlen - frei, gleich, geheim, direkt - schlicht keinen Sinn. Nur, wer von Macht lassen kann, ist geeignet, sie in einer Demokratie innezuhaben. Stellvertretend, befristet, begrenzt, verantwortlich.
Das klassische, antike Vorbild dafür ist Solon. Als Wegbereiter der attischen Demokratie versagte er sich den möglichen Griff nach der Alleinherrschaft (Tyrannis) und verließt Athen bewusst nach der von ihm vollbrachten Reform.
Nun ist Trump mit seinem Problem keineswegs allein. Das zeigte etwa Erdogans gescheiterter Versuch, die Bürgermeister-Wahlen 2019 in Istanbul umzukehren, von Lukaschenko und seinem gewaltsamen Kleben an der Macht in Belarus ganz zu schweigen. Andere Autokraten wie Putin lassen es gar nicht erst so weit kommen. Die Nächte nach freien Wahlen sind Sternstunden echter Demokratie, wenn eine zivilisiert-friedliche Machtübergabe gelingt - oder aber Momente scheindemokratischer Selbstinszenierung. In diesen Stunden und Tagen offenbart sich noch einmal die ganze Problematik des fehlenden Demokratie-Verständnisses, das Trump während seiner gesamten Präsidentschaft geleitet hat.
Verlieren zu lernen, ist ein wichtiger Schritt in der frühen Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes. Dass dies in Trumps Erziehung scheinbar anders gelaufen ist, hat seine Nichte Mary Trump in „Too much and never enough“ (2020) noch einmal dargelegt. Es gehört zu einer gesunden Form des Egos, aushalten zu können, nicht immer im Zentrum zu stehen und fair zu verlieren. Ich kann viel damit anfangen, wenn Menschen leidenschaftlich spielen, kämpfen, gewinnen wollen. Alles andere wäre auch langweilig. Aber ans Ende gehört das faire „Shake-Hands“. Ein wichtiger Gedanke, der für alle Bereiche des Lebens gilt: Die Freiheit, dass auch der andere siegen kann, begrenzt nicht meine Freiheit, sondern ermöglicht sie erst. Ansonsten zerstöre ich das Spiel. Oder anders formuliert: Autokraten haben keine Freunde, sondern nur Follower oder Feinde. Das gilt besonders für eine Medien-Gestalt wie Trump, der eigentlich nicht in Kategorien von „Wähler“, sondern von „Anhängern“ denkt.
Klar ist, dass es im politischen Alltag ums Gewinnen geht, gerade in Wahlkampf-Zeiten. Die Demokratie lebt vom Wettbewerb unterschiedlicher Idee. Und Wählerinnen und Wähler erwarten zurecht Personen, die ihre Anliegen durchsetzungsstark vertreten können. Politik ist ein Spiel auf Sieg. Zugleich brauchen Menschen in wichtigen politischen Ämtern aber auch die Kompetenz, verlieren zu können. Sie ist politisch wichtig, weil wir als Menschen immer fehlbar sind. Weil eine Politikerin das höhere Gemeinwohl vom Eigennutz unterscheiden können muss. Weil es die Grenzen von Amt und Person zu beachten gilt, die aber mit den Jahren leider oft gefährlich verwischen. Nicht verlieren zu können, ist Ausdruck eines gefährlichen Differenz-Verlustes. In Bezug auf Trump hat dies ein Kommentator in der FAZ kürzlich gut beschrieben: Trump lüge eigentlich nicht. Für ihn verschwämmen nur die Grenzen zwischen Selbstinszenierung und Realität.
Im christlichen Glauben gibt es nun eine dezidiert andere Sicht auf das Phänomen des „Verlieren-Könnens“. Ein politisches Manifest im Sinne konkreter Handlungsanweisung lässt sich aus ihnen sicher nicht entwickeln. Wie wichtig der Glaube aber gerade auch für eine politische Haltung ist, zeigen zwei Szenen aus dem Umfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen: Auf der einen Seite Joe Biden. Am Dienstag besuchte er nach einem Gottesdienst auf dem Friedhof in Wilmington die Gräber seines Sohnes Beau, der mit 46 Jahren an einem Gehirntumor verstarb, und seiner ersten Frau Neilia und ihrer gemeinsamen Tochter Naomi, beide bei einem Unfall umgekommen. Zeichen eigener biographischer Verletzlichkeit. Auf der anderen Seite das Gebet von Paula White, der spirituellen Beraterin (presidential spiritual adviser) von Donald Trump mit Sitz im Weißen Haus: „Strike and strike and strike and strike [...], until you have victory.“ „I hear victory.“ Auch bei einer möglichen anderen politischen Sichtweise hat diese inszenierte Ekstase für mich nichts, aber auch gar nichts mit dem Glauben an den gekreuzigten Christus zu tun. Das lässt sich auch nicht als „evangelikal“ bezeichnen. Das ist schlicht eine parteipolitische Instrumentalisierung von Gebet, Geist, Glaube, Gott im Sinne eines „Wohlstandsevangeliums“ - sprich Gotteslästerung.
Für ein anderes Verständnis des „Verlieren-Könnens“ gibt es ein uraltes Lied. Es ist eines der ältesten christlichen Lieder überhaupt und stammt aus den Jahren der ersten christlichen Gemeinden, irgendwann zwischen 30 und 40 n. Chr. Paulus zitiert diesen Hymnus auf Christus in seinem Philipperbrief (2,6-11). Und durch die Worte, mit denen er ihn einleitet, macht er deutlich, dass in diesem Lied für ihn die Quintessenz christlichen Lebens enthalten ist: „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht.“ Und dann folgt in der alten, uns oft fremden Form der Psalmen Israels dieses Lied:
Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst
und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich
und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst
und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht
und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist,
dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie,
die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,
und alle Zungen bekennen sollen,
dass Jesus Christus der Herr ist,
zur Ehre Gottes, des Vaters.
Sich aus Liebe für andere selbst hingeben: Das ist nach Paulus die Pointe allen christlichen Lebens. Und das ist es, was Christus zum Weltenrichter qualifiziert: die unbedingte Bereitschaft, sich selbst aus Liebe zu verlieren. Nur wer Gott und sich selbst so verloren hat, ist davor gefeit, den Stab über andere zu brechen. Paulus unterstreicht dies, indem er - wie viele Ausleger vermuten - den Tiefpunkt des Todes noch einmal durch einen kleinen Einschub in das Lied betont: „ja zum Tode am Kreuz“.
„Aus Liebe zu anderen verlieren lernen“ - das ist es, was Jesus lehrte und lebte: angefangen bei vielen seiner Gleichnisse über seine radikal gelebte Nächsten- und Feindesliebe bis hin zu seinem Tod am Kreuz. Und Gott selbst, so glauben wir als Christinnen und Christen, lässt sich am ehesten beschreiben als eine Liebe, die sich für andere verliert (1. Joh 4,16). Damit kann „Verlieren“ für uns in bestimmten Situationen ein anderes Gesicht gewinnen. Dann nämlich, wenn sich darin eine Liebe zu anderen ausdrückt. Die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen. Oder eben fair verlieren zu können. Letzteres ist nicht nur christlich geboten. Es gehört sich auch in einer Demokratie - besonders in Nächten nach einer Wahl.
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© D. Williams/Pixabay.com
Info:
Thorsten Latzel ist Direktor, Pfarrer und Studienleiter für Theologie & Kirche, Evangelische Akademier Frankfurt
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: www.bod.de/buchshop
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