DAS JÜDISCHE LOGBUCH
Yves Kugelmann
Berlin (Weltexpresso) - Deutschland, November 2020. Überall Herbstblätter. In Mainz, Frankfurt, Berlin brennen Gedenkkerzen, liegen Blumen neben den Stolpersteinen. Tage nach dem Gedenktag zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938 rücken die Trottoirs Geschichte und NS-Opfer in Erinnerung. Herbstblätter überall. Die milden Tage lassen Europas größtes Mahnmal an die Schoah nochmals aufblühen. Schulklassen oder Erinnerungsvereine machen sich auf, reinigen Steine. Besuchergruppen laufen mit Smartphones entlang der Stolpersteine und vertiefen sich in die Biografien der Deportierten und Vernichteten. Menschen halten inne beim Spaziergang, auf dem Weg irgendwohin. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute für Minute setzt Europas sinnvollestes Gedenkprojekt Menschen in einen interaktiven Dialog nicht nur mit Geschichte, sondern eben mit Orten der Gegenwart. Längst verwischte Spuren bleiben sichtbar, rücken Opfer und damit Orte ins Bewusstsein. Da werden Diskussionen um statische Mahnmale wie etwa in der Schweiz geradezu lächerlich. Selbstzufrieden wird da – meist von älteren Herren – in Stein gemeisselte Erinnerung gefordert anstatt endlich das Diktum der Zeit proklamiert: der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, Antisemitismus und schliesslich die Menschenrechtskonventionen müssen als Pflichtstoff in alle Schulen und somit in Schulbücher. Denkmäler bleiben in der Regel Staubfänger und vermeintlicher Balsam von Obrigkeiten für Opfergruppen. Das eigentliche Zielpublikum erreichen sie selten bis gar nicht. Wenn nun die «Stolpersteine» in der Schweiz lanciert werden (vgl. Seite 14) und sich Organisatoren hoffentlich redlich auf eine wahrheitsgetreue Definition von «Opfer des Nationalsozialismus» festlegen, dann kann das nur eine gute Wendung sein, nachdem in der Schweiz der Um- und Zugang zu diesem Teil der Geschichte in den letzten Jahren zu oft in historisch und faktisch falschen Projekten wie «The Last Swiss Holocaust Survivors» oder kürzlich in der Serie des Schweizer Fernsehens «Frieden» mündete - in dem einmal mehr jüdische Opfer zu Statisten anstatt Protagonisten wurden. Da kann ein Projekt wie die Stolpersteine justieren. Die jüdischen und andere Funktionäre, wenn sie sich denn wirklich ernsthaft des Themas annehmen wollen, werden nicht umhin kommen, den Themenkomplex endlich zum Schulstoff zu machen, mit allen wichtigen Anbindungen an Völkermord, Krieg und Flucht. Auf dass keine Stolpersteine für künftige Ereignisse benötigt werden.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. November 2020
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.