75 jahre nurnberger prozeß75 Jahre Nürnberger Prozeß, der Hauptkriegsverbrecherprozeß im Schwurgerichtssaal 600

Claudia Schulmerich

Nürnberg (Weltexpresso) - „Daß vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat.“ So sprach der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson in seiner Eröffnungsansprache zum ersten Prozeß am 21. November 1945.

Für uns Deutsche sind die Anklagen und die „Verteidigungen“, die Aussagen und das Schweigen der Angeklagten, schließlich die Urteile, also das Inhaltliche, das Wichtige. Von heute her aber ist die Einrichtung eines internationalen Gerichts, eines internationalen Militärgerichtshofs (IMG; englisch International Military Tribunal, IMT))aus Vertretern der vier alliierten Mächte: der Sowjetunion, Frankreich,Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika, wo sich Nazi-Verbrecher für ihre Untaten verantworten müssen, ein wichtiger Akt, der durch sein Gelingen Geschichte machte und den Internationale Gerichtshof in Den Haag damit konstituierte: trotz völlig unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Systeme der Siegermächte sich auf ein gemeinsames strafrechtliches Vorgehen gegen die Führer und Verantwortlichen der kriegstreibenden, inhumanen Diktatur des 3. Deutschen Reichs, die ihre Bürger entrechtete und in KZs Menschen quälte und ermordete, zu einigen und dies über Monate – bis zum Ende des ersten Prozesses am 1. Oktober 1946 - gemeinsam durchzuführen und nach dem Richterspruch noch weitere acht Prozesse folgen zu lassen.

Tatsächlich war das der Auftakt, der zum heutigen Völkerstrafrecht führte, das ja auf dem Konstrukt beruht, daß staatliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, also Völkerrechtsverbrechen durch rechtsstaatliche Gerichtsverfahren verfolgt, bewiesen und bestraft werden – statt wie in früheren Zeiten auf verlorene Kriege mit einem neuen Krieg und auf gewonnene Kriege mit der Knechtung des Verlierervolkes zu antworten. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört auch das menschliche Verhalten, das überprüft werden kann. Im Hauptkriegsverbrecherpozeß wurden 24 Männer angeklagt, die unterschiedlicher Taten in drei Kategorien bezichtigt wurden.

Das waren:
1. Verbrechen gegen den Frieden, was heute Aggressionsverbrechen genannt wird, wenn beispielsweise ein Angriffskrieg trotz bestehender internationaler Verträge begonnen wird.
2. Kriegsverbrechen, vor allem diejenigen, die gegen die Haager Konventionen von 1899 und 1907 verstießen und gegen die Genfer Konvention von 1864, wo der Schutz von Kriegsgefangenen geregelt war.
3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und das war das Neue und hatte die Ahndung der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten zum Ziel, das, was wir heute die industrielle Ermordung von Juden, Roma, Homosexuellen,Oppositionellen, überhaupt Andersdenkenden nennen.

In einem Sammelband zum 75. Jahrestag der Eröffnung des ersten, des Hauptkriegsverbrecherprozesses am 20. November 1945 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, hat das Memorium Nürnberger Prozesse - die Informations- und Dokumentationsstätte am historischen Gedenkort, die genau vor zehn Jahren mit eigenem Personal und Gebäude neben dem Gericht mit dem heute für die Öffentlichkeit sichtbaren Schwurgerichtssaal 600 gegründet wurde - mit vielen Beiträgen aus den vier alliierten Staaten und Deutschland von heute her auf diesen Prozeß zurückgeblickt. Sehr informativ, vielseitig und eingängig zu lesen, was die vielen historischen Fotos unterstützen.

In Deutschland ist weniger bekannt als in der Welt, insbesondere den USA, daß schon vor Jahren dieser Gerichtssaal für die Öffentlichkeit präpariert wurde und heute jährlich über 100 000 Interessierte, die hauptsächlich aus den USA kommen, die mit vielen Dokumenten und visuellem Material bereicherte permanente Ausstellung besuchen. Und, ich wollte es nicht glauben, aber noch heute fühlt man in dem großen Saal eine Aura, die Gänsehaut erzeugt, weil natürlich die Erinnerung sofort die Originalaufnahmen des Prozesses ins Gedächtnis zeichnet, durchaus aber auch die Filme, unter ihnen bis heute DAS URTEIL VON NÜRNBERG von 1961 mit Maximilan Schell als konsequenten und eloquenten Verteidiger, für den er den Oskar erhielt – nicht das Opfer, nicht die Anklage – eindrucksvoll.

All das wird beim Lesen des Sammelbandes imaginiert, wobei durch die Autorinnen und Autoren aus so vielen Ländern der Leser neue Gesichtspunkte gewinnen kann. Interessant beispielsweise der Beitrag „Wir rechnen mit den Angeklagten voll und ganz und gerecht ab“. Die Sowjetunion und der Nürnberger Prozess von Julia Kantor. Durch die Westorientierung der Bundesrepublik Deutschland kannte man ja die geschichtliche Aufarbeitung des 2.Weltkrieges, des Nürnberger Prozesses und der Folgen durch Historiker der UdSSR und auch der DDR kaum, wobei die in Nürnberg erörterten und geahndeten Verbrechen vor allem im Osten Europas geschahen, also eine zusätzliche Betroffenheit herrschte und herrscht, man denke nur an das Aushungern der Bevölkerung von Leningrad, den Kampf um Stalingrad, die KZs und die deutschen Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die zwei Millionen Juden im Osten ermordeten.

So ist auch typisch, daß wir den Namen des sowjetischen Chefanklägers des Internationalen Militärtribunals R.A. Rudenko (Staatsanwalt der ukrainischen SSR und spätere Generalstaatsanwalt der UdSSR kaum kennen, der am 8. Februar 1946 in Nürnberg ausführte: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit stößt die Rechtspflege auf Verbrechen von derartigen Ausmaßen....Zum ersten Mal stehen Verbrecher vor dem Richter, die sich eines ganzen Staates bemächtigt und diesen Staat selbst zum Werkzeug ihrer ungeheuerlichen Verbrechen gemacht hatten. Zum ersten Male endlich richten wir in den Angeklagten nicht nur sie selbst, sondern auch die von ihnen ins Leben gerufenen Einrichtungen und Organisationen sowie ihre menschenverachtenden ‚Theorien‘ und ‚Ideen‘...in heiligem Gedenken an die Millionen unschuldiger Opfer des faschistischen Terrors, im Namen der Sicherheit der Völker und der Zukunft, rechnen wir mit den Angeklagten voll und ganz und gerecht ab.“(Seite 54 dieser Gedenkschrift).

Als jemand, der in seiner Kindheit und Jugend an den Altnazis in der jungen Bundesrepublik regelrecht litt, sind mir noch deren über Sprache ausgetragene Herrschaftsansprüche/Deutungshoheiten in schlechter Erinnerung. Wenn ich selbstverständlich von Siegermächten sprach, denn die hatten ja für die Deutschen und die Welt die Nürnberger Prozesse in Gang gesetzt, durchgeführt und Strafen ausgesprochen, dann fiel den Ewiggestrigen nur ein, von Siegerjustiz und Siegerurteilen zu sprechen.

Eigentlich habe sich das gesellschaftliche Bewußtsein, auch die Aufarbeitung der bundesrepublikanischen nachfaschistischen Mentalität weiter Teile der Bevölkerung – Fritz Bauer als Lichtgestalt - im Positiven geändert, dachte ich. Aber die heutigen demokratiefeindlichen und verschwörungstheoretischen, auch antisemitischen „Bewegungen“ auf der Straße, machen mir Angst. Um so wichtiger, unsere Gedenktage gegen den Nationalsozialismus ernst zu nehmen, auf so sinnreiche Sammelbände wie 75 JAHRE NÜRNBERGER PROZESS einzugehen und das Erwerben und Lesen zu empfehlen.

Foto:
Cover

Info:
Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 21
Verlag: Imhof, Petersberg
Neuausg.
Seitenzahl: 120
Deutsch, Englisch
ISBN-978-3-7319 0948 4