Jaschar Dugalic
Basel (Weltexpresso) - In Deutschland und anderen Ländern Europas werden seit 1992 Stolpersteine in Erinnerung an Holocaust-Opfer vor deren letzten Wohnadressen im Boden eingelassen. Bis heute sind es rund 75 000 Messingsteine mit den Namen der Individuen und ihren Lebensdaten. In der Schweiz wurden 2013 die ersten beiden der Gedenktafeln in Kreuzlingen in den Boden gelegt, eine weitere 2015 in Tägerwilen gleich nebenan.
Die Steinsetzungen erfolgten durch die Initiative der «Stolpersteine für Konstanz – gegen Vergessen und Intoleranz». Diese setzt sich seit 2005 für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen (NS) Geschichte in der Stadt Konstanz ein. Seit diesem Jahr existiert nun auch in der Schweiz ein Verein, der sich mit den weniger bekannten Schicksalen von Schweizer NS-Opfern auseinandersetzt. Mit den Namen von Häftlingen in Konzentrationslagern (KZ) mit Schweizer Staatsbürgerschaft oder in der Schweiz geborenen KZ-Häftlingen, die Opfer des Nazi-Regimes wurden, soll der Erinnerungsarbeit an die Schreckenszeit des Nationalsozialismus und die unrühmliche Rolle der Schweizer Regierung zu jener Zeit ein Gesicht gegeben werden.
Pädagogische Erinnerungsarbeit
Der Auftakt des Vereins Stolpersteine Schweiz wird am kommenden Samstag, dem 27. November gemacht. «Vor rund einem Jahr erschien das Buch ‹Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs› der Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Truchschmid, mit Porträts von Schweizer KZ-Häftlingen. Anlässlich eines Kolloquiums im Archiv für Zeitgeschichte zum Thema Schweizer Opfer der Nazi-Zeit, an dem ich ebenfalls anwesend war, wurde von René Staubli infrage gestellt, ob die Idee eines Mahnmals zum Gedenken an die Schweizer Opfer genügend an die individuellen Geschichten der Opfer erinnern könne», erklärt Roman Rosenstein, Initiant und Vorstandsmitglied des Vereins Stolpersteine Schweiz im Gespräch mit tachles, «im Laufe des Kolloquiums kam die Idee auf, den im Buch genannten Individuen Stolpersteine zu widmen, was auch René Staubli positiv aufnahm.»
Obwohl auf dem Gebiet der Schweiz keine Menschen als Teil des Holocaust ums Leben kamen, gibt es dennoch Schweizer Holocaust-Opfer. Den Autoren des genannten Buchs gelang es, Namen und Anzahl der «Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung» aufzustellen. Dabei wird zwischen Betroffenen, die bei der Inhaftierung über eine Schweizer Staatsbürgerschaft verfügten – darunter auch Doppelbürger und Schweizerinnen, die die Bürgerschaft durch Ehe mit einem Ausländer verloren – und KZ-Häftlingen, die nie Schweizer waren, jedoch in der Schweiz geboren waren, aufwuchsen und teils einen Grossteil ihres Lebens hier verbrachten, unterschieden. Insgesamt kamen die Autoren auf 742 solcher KZ-Häftlinge, 468 starben in einem KZ. Für die Recherche im Auftrag des Vereins Stolpersteine Schweiz wurden 90 Fälle herausgesucht, für die Stolpersteine infrage kommen, aus denen wählte der Vereinsvorstand die ersten sieben aus. Im Setzen von Stolpersteinen sieht Rosenstein einen klaren Vorteil: «Anstelle einer Gedenktafel oder eines Mahnmals etwa in Bundesbern, mit einmaliger Einweihungszeremonie, bietet ein mehrjähriger Prozess mit Setzen von Stolpersteinen eine gewisse Regelmäs-sigkeit des Erinnerns. Noch viel wichtiger erscheint mir die Möglichkeit für Lehrer, mit ihren Schulklassen an Steinsetzungen anwesend zu sein. So kann die unrühmliche Politik der Schweiz während des Holocausts anhand individueller Schicksale mit Namen und Gesichtern unterrichtet und Erinnerungsarbeit für die Zukunft geleistet werden.»
Dass es sich nicht nur um historische Ereignisse handelt, zeigt das Engagement von Angehörigen der NS-Opfer. Zur erstmaligen Steinsetzung erklärten sich gleich bei allen vier Holocaust-Opfern Angehörige bereit, teilzunehmen. Bereits bei den Steinsetzungen in Konstanz waren solche anwesend und berichteten dem Publikum ihre Erlebnisse zu jener Zeit. Jede Steinsetzung soll also Anlass sein, über die Rolle der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus nachzudenken.
Namen als Markstein
«Die Grundidee ist, dass überall dort in Europa, wo die Nazis, die SS und die Gestapo ihr Unwesen getrieben haben, wo Menschen flüchten mussten oder verhaftet wurden, Stolpersteine auftauchen», sagt Gunter Demnig, der Erfinder der Stolpersteine, zu tachles. «Die Namen sollen zurückkehren, an jene Orte, an denen die Menschen lebten.» Für das Projekt habe ihm zudem der Satz aus dem Talmud «Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist» als Inspiration gedient. Mit den Gedenktafeln soll also an das Schicksal all jener Menschen erinnert werden, die während der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Dass es rund 30 Jahre dauerte, bis auch in der Schweiz selbst eine Initiative entstand, Stolpersteine zu setzen, überrascht Demnig nicht: «In der Schweiz wird es Zeit, dass endlich einmal an ihre unrühmliche Rolle während des Zweiten Weltkriegs erinnert wird. Widerstand haben wir aber in ganz Europa erfahren, in den Niederlanden gab es eine regelrechte Mauer gegen das Projekt Stolpersteine, auch in Frankreich geben sich die Behörden zögerlich.» Es gebe aber auch andere Länder, die von Anbeginn des Projekts dabei gewesen seien: «In Finnland könnte man sagen, ‹es gibt nur acht Steine›. Dies sind jedoch acht Schicksale zu viel. Uns ist wichtig, dass der europäische Aspekt, die Rolle ganz Europas durch das Projekt zum Vorschein kommt.» Das Projekt gehe kontinuierlich weiter, so Demnig, die Nachfrage sei mittlerweile so hoch, dass er eine zweite Werkstatt eröffnen musste: «Viele ältere Angehörige von NS-Opfern äussern den Wunsch, einen Stolperstein für ihre Familienmitglieder zu erhalten, damit sie im Wissen sterben können, dass an diese erinnert wird, dem wird natürlich Vorrang gegeben.»
Nicht nur jüdische Opfer
Dass das Mahnmal nicht nur den jüdischen Holocaust-Opfern gewidmet ist, sondern auch allen anderen Menschen, die vom NS-Regime verfolgt, verhaftet und ermordet wurden, wie Sozialisten, Homosexuelle, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas oder politische Widerstandskämpfer, zeigt sich auch in der Zusammensetzung des Vereins Stolpersteine Schweiz. Zum Vorstand des Vereins gehören neben Roman Rosenstein auch der Journalist Andreas «Res» Strehle als Präsident sowie die Schriftstellerin Ruth Schweikert, der evangelisch-reformierte Gemeindepfarrer Roland Beat Diethelm und der emeritierte Historiker Jakob Tanner. Die Schweizer NS-Opfer, zu deren Gedenken die Stolpersteine verlegt werden, hatten unterschiedliche Schicksale. Lea Berr, geborene Bernheim, war eine jüdische Schweizerin, die durch ihre Heirat mit einem Franzosen die Staatsbürgerschaft verlor. Ihr und ihrem Sohn Alain verweigerten die Schweizer Behörden jegliche Hilfe, da beide nicht mehr Schweizer seien. Beide wurden im KZ Auschwitz ermordet. Bei Sara «Selma» Rothschild war es gerade umgekehrt, sie wurde durch die Ehe mit dem Zürcher Samuel Rothschild Schweizerin, lebte jedoch in Frankreich, wo sie mit ihren Kindern Jula und Armand Frédéric verhaftet und deportiert wurde. Auch sie wurden im KZ Auschwitz ermordet. Albert Mülli hingegen war Schweizer, nicht jüdisch, der in sozialistischen Vereinen tätig war und beim Transport kommunistischer Flugblätter nach Wien von der Gestapo verhaftet wurde. Die heimischen Behörden überliessen ihn dem NS-Regime, das ihn ins KZ Dachau deportierte. Nach seiner Befreiung durch US-Truppen und der Rückkehr in die Schweiz war die einzige behördliche Reaktion eine Aufforderung, die Militärsteuer der vergangenen Jahre nachzuzahlen. Josef Traxl letztlich war ein in der Schweiz wohnhafter homosexueller Österreicher, der nach längerer Internierung in der Schweiz und mehrfacher Bitte der Schweizer Behörden an die Österreichischen, man solle ihn doch zurücknehmen und wegen Gefahr für seine Mitmenschen – ausgehend von seiner Homosexualität – «in einer heimatlichen Anstalt versorgen», wurde an die Grenze gestellt, wo ihn die österreichischen NS-Behörden verhafteten und ins KZ Buchenwald deportierten. Dort wurde Traxl ermordet.
An den Steinsetzungen werden auch Angehörige der NS-Opfer anwesend sein. «Ich hatte leider keine persönliche Beziehung zu meiner Tante und meinem einzigen Cousin – ich kenne sie nur aus vielen traurigen Erzählungen meines Vaters. Nichtsdestotrotz wird die Stolpersteinsetzung ein sehr emotionaler Moment für mich sein,» sagt Denise Schmid-Bernheim, die Nichte von Lea Berr-Bernheim, auf Anfrage von tachles. Darüber, dass endlich in der Schweiz Stolpersteine gesetzt werden, zeigt sie sich erleichtert: «Es ist sehr gut, dass dies zustande kommt. Die Rolle der Schweiz im Holocaust und ihre Politik gegenüber einem Teil ihrer Bürger muss gelehrt werden», so Schmid-Bernheim.
Mitgliedschaft für Bürger und Institutionen
Finanziert werden das Projekt und die Vereinsaktivität durch Mitgliedschaften wie auch durch Spenden. «Wir rechnen damit, dass etwa ein Drittel bis ein Viertel unserer Ausgaben durch die Mitgliedschaften gedeckt werden», erklärt Roman Rosenstein gegenüber tachles, «zusätzlich zur individuellen Mitgliedschaft kann man auf unserer Webseite auch direkt Vorschläge für neue Stolpersteine anmelden. Standortgemeinden von Stolpersteinen und andere Institutionen, die unsere Zielsetzung teilen, können dem Verein mit etwas höheren Beiträgen als institutionelle Mitglieder beitreten.» Bis anhin sei man auf sehr grosszügige Starthilfe gestossen, sagt Rosenstein weiter. Für die historische Recherche, für die der Verein René Staubli engagierte, habe die Zürcher Stadtverwaltung einen Mitarbeiter zur Verfügung gestellt und die Kosten dafür aus einem Spezialfonds übernommen, so Rosenstein. Die nächste Installation von Stolpersteinen findet im Frühjahr 2021 statt. Dabei sollen in Anwesenheit von Stadtpräsidentin Corinne Mauch im Eingangsbereich des Zürcher Schauspielhauses für die in der Nachkriegszeit an der Pfauen-Bühne tätigen Holocaust-Opfer Bernhard Wicki und Wolfgang Langhoff Stolpersteine gesetzt werden.
Foto:
Wie in Deutschland und andere Ländern Europas sollen in der Schweiz «Stolpersteine» an NS-Opfer erinnern
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. November 2020
www.stolpersteine.ch
Pädagogische Erinnerungsarbeit
Der Auftakt des Vereins Stolpersteine Schweiz wird am kommenden Samstag, dem 27. November gemacht. «Vor rund einem Jahr erschien das Buch ‹Die Schweizer KZ-Häftlinge – Vergessene Opfer des Dritten Reichs› der Autoren Balz Spörri, René Staubli und Benno Truchschmid, mit Porträts von Schweizer KZ-Häftlingen. Anlässlich eines Kolloquiums im Archiv für Zeitgeschichte zum Thema Schweizer Opfer der Nazi-Zeit, an dem ich ebenfalls anwesend war, wurde von René Staubli infrage gestellt, ob die Idee eines Mahnmals zum Gedenken an die Schweizer Opfer genügend an die individuellen Geschichten der Opfer erinnern könne», erklärt Roman Rosenstein, Initiant und Vorstandsmitglied des Vereins Stolpersteine Schweiz im Gespräch mit tachles, «im Laufe des Kolloquiums kam die Idee auf, den im Buch genannten Individuen Stolpersteine zu widmen, was auch René Staubli positiv aufnahm.»
Obwohl auf dem Gebiet der Schweiz keine Menschen als Teil des Holocaust ums Leben kamen, gibt es dennoch Schweizer Holocaust-Opfer. Den Autoren des genannten Buchs gelang es, Namen und Anzahl der «Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung» aufzustellen. Dabei wird zwischen Betroffenen, die bei der Inhaftierung über eine Schweizer Staatsbürgerschaft verfügten – darunter auch Doppelbürger und Schweizerinnen, die die Bürgerschaft durch Ehe mit einem Ausländer verloren – und KZ-Häftlingen, die nie Schweizer waren, jedoch in der Schweiz geboren waren, aufwuchsen und teils einen Grossteil ihres Lebens hier verbrachten, unterschieden. Insgesamt kamen die Autoren auf 742 solcher KZ-Häftlinge, 468 starben in einem KZ. Für die Recherche im Auftrag des Vereins Stolpersteine Schweiz wurden 90 Fälle herausgesucht, für die Stolpersteine infrage kommen, aus denen wählte der Vereinsvorstand die ersten sieben aus. Im Setzen von Stolpersteinen sieht Rosenstein einen klaren Vorteil: «Anstelle einer Gedenktafel oder eines Mahnmals etwa in Bundesbern, mit einmaliger Einweihungszeremonie, bietet ein mehrjähriger Prozess mit Setzen von Stolpersteinen eine gewisse Regelmäs-sigkeit des Erinnerns. Noch viel wichtiger erscheint mir die Möglichkeit für Lehrer, mit ihren Schulklassen an Steinsetzungen anwesend zu sein. So kann die unrühmliche Politik der Schweiz während des Holocausts anhand individueller Schicksale mit Namen und Gesichtern unterrichtet und Erinnerungsarbeit für die Zukunft geleistet werden.»
Dass es sich nicht nur um historische Ereignisse handelt, zeigt das Engagement von Angehörigen der NS-Opfer. Zur erstmaligen Steinsetzung erklärten sich gleich bei allen vier Holocaust-Opfern Angehörige bereit, teilzunehmen. Bereits bei den Steinsetzungen in Konstanz waren solche anwesend und berichteten dem Publikum ihre Erlebnisse zu jener Zeit. Jede Steinsetzung soll also Anlass sein, über die Rolle der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus nachzudenken.
Namen als Markstein
«Die Grundidee ist, dass überall dort in Europa, wo die Nazis, die SS und die Gestapo ihr Unwesen getrieben haben, wo Menschen flüchten mussten oder verhaftet wurden, Stolpersteine auftauchen», sagt Gunter Demnig, der Erfinder der Stolpersteine, zu tachles. «Die Namen sollen zurückkehren, an jene Orte, an denen die Menschen lebten.» Für das Projekt habe ihm zudem der Satz aus dem Talmud «Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist» als Inspiration gedient. Mit den Gedenktafeln soll also an das Schicksal all jener Menschen erinnert werden, die während der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Dass es rund 30 Jahre dauerte, bis auch in der Schweiz selbst eine Initiative entstand, Stolpersteine zu setzen, überrascht Demnig nicht: «In der Schweiz wird es Zeit, dass endlich einmal an ihre unrühmliche Rolle während des Zweiten Weltkriegs erinnert wird. Widerstand haben wir aber in ganz Europa erfahren, in den Niederlanden gab es eine regelrechte Mauer gegen das Projekt Stolpersteine, auch in Frankreich geben sich die Behörden zögerlich.» Es gebe aber auch andere Länder, die von Anbeginn des Projekts dabei gewesen seien: «In Finnland könnte man sagen, ‹es gibt nur acht Steine›. Dies sind jedoch acht Schicksale zu viel. Uns ist wichtig, dass der europäische Aspekt, die Rolle ganz Europas durch das Projekt zum Vorschein kommt.» Das Projekt gehe kontinuierlich weiter, so Demnig, die Nachfrage sei mittlerweile so hoch, dass er eine zweite Werkstatt eröffnen musste: «Viele ältere Angehörige von NS-Opfern äussern den Wunsch, einen Stolperstein für ihre Familienmitglieder zu erhalten, damit sie im Wissen sterben können, dass an diese erinnert wird, dem wird natürlich Vorrang gegeben.»
Nicht nur jüdische Opfer
Dass das Mahnmal nicht nur den jüdischen Holocaust-Opfern gewidmet ist, sondern auch allen anderen Menschen, die vom NS-Regime verfolgt, verhaftet und ermordet wurden, wie Sozialisten, Homosexuelle, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas oder politische Widerstandskämpfer, zeigt sich auch in der Zusammensetzung des Vereins Stolpersteine Schweiz. Zum Vorstand des Vereins gehören neben Roman Rosenstein auch der Journalist Andreas «Res» Strehle als Präsident sowie die Schriftstellerin Ruth Schweikert, der evangelisch-reformierte Gemeindepfarrer Roland Beat Diethelm und der emeritierte Historiker Jakob Tanner. Die Schweizer NS-Opfer, zu deren Gedenken die Stolpersteine verlegt werden, hatten unterschiedliche Schicksale. Lea Berr, geborene Bernheim, war eine jüdische Schweizerin, die durch ihre Heirat mit einem Franzosen die Staatsbürgerschaft verlor. Ihr und ihrem Sohn Alain verweigerten die Schweizer Behörden jegliche Hilfe, da beide nicht mehr Schweizer seien. Beide wurden im KZ Auschwitz ermordet. Bei Sara «Selma» Rothschild war es gerade umgekehrt, sie wurde durch die Ehe mit dem Zürcher Samuel Rothschild Schweizerin, lebte jedoch in Frankreich, wo sie mit ihren Kindern Jula und Armand Frédéric verhaftet und deportiert wurde. Auch sie wurden im KZ Auschwitz ermordet. Albert Mülli hingegen war Schweizer, nicht jüdisch, der in sozialistischen Vereinen tätig war und beim Transport kommunistischer Flugblätter nach Wien von der Gestapo verhaftet wurde. Die heimischen Behörden überliessen ihn dem NS-Regime, das ihn ins KZ Dachau deportierte. Nach seiner Befreiung durch US-Truppen und der Rückkehr in die Schweiz war die einzige behördliche Reaktion eine Aufforderung, die Militärsteuer der vergangenen Jahre nachzuzahlen. Josef Traxl letztlich war ein in der Schweiz wohnhafter homosexueller Österreicher, der nach längerer Internierung in der Schweiz und mehrfacher Bitte der Schweizer Behörden an die Österreichischen, man solle ihn doch zurücknehmen und wegen Gefahr für seine Mitmenschen – ausgehend von seiner Homosexualität – «in einer heimatlichen Anstalt versorgen», wurde an die Grenze gestellt, wo ihn die österreichischen NS-Behörden verhafteten und ins KZ Buchenwald deportierten. Dort wurde Traxl ermordet.
An den Steinsetzungen werden auch Angehörige der NS-Opfer anwesend sein. «Ich hatte leider keine persönliche Beziehung zu meiner Tante und meinem einzigen Cousin – ich kenne sie nur aus vielen traurigen Erzählungen meines Vaters. Nichtsdestotrotz wird die Stolpersteinsetzung ein sehr emotionaler Moment für mich sein,» sagt Denise Schmid-Bernheim, die Nichte von Lea Berr-Bernheim, auf Anfrage von tachles. Darüber, dass endlich in der Schweiz Stolpersteine gesetzt werden, zeigt sie sich erleichtert: «Es ist sehr gut, dass dies zustande kommt. Die Rolle der Schweiz im Holocaust und ihre Politik gegenüber einem Teil ihrer Bürger muss gelehrt werden», so Schmid-Bernheim.
Mitgliedschaft für Bürger und Institutionen
Finanziert werden das Projekt und die Vereinsaktivität durch Mitgliedschaften wie auch durch Spenden. «Wir rechnen damit, dass etwa ein Drittel bis ein Viertel unserer Ausgaben durch die Mitgliedschaften gedeckt werden», erklärt Roman Rosenstein gegenüber tachles, «zusätzlich zur individuellen Mitgliedschaft kann man auf unserer Webseite auch direkt Vorschläge für neue Stolpersteine anmelden. Standortgemeinden von Stolpersteinen und andere Institutionen, die unsere Zielsetzung teilen, können dem Verein mit etwas höheren Beiträgen als institutionelle Mitglieder beitreten.» Bis anhin sei man auf sehr grosszügige Starthilfe gestossen, sagt Rosenstein weiter. Für die historische Recherche, für die der Verein René Staubli engagierte, habe die Zürcher Stadtverwaltung einen Mitarbeiter zur Verfügung gestellt und die Kosten dafür aus einem Spezialfonds übernommen, so Rosenstein. Die nächste Installation von Stolpersteinen findet im Frühjahr 2021 statt. Dabei sollen in Anwesenheit von Stadtpräsidentin Corinne Mauch im Eingangsbereich des Zürcher Schauspielhauses für die in der Nachkriegszeit an der Pfauen-Bühne tätigen Holocaust-Opfer Bernhard Wicki und Wolfgang Langhoff Stolpersteine gesetzt werden.
Foto:
Wie in Deutschland und andere Ländern Europas sollen in der Schweiz «Stolpersteine» an NS-Opfer erinnern
© tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. November 2020
www.stolpersteine.ch