sergej sokolow nowaja gaseta 102 v img 16 9 m 4423061158a17f4152aef84861ed0243214ae6e7 br.deNeben der westlichen Aufgeklärtheit und Liberalität erscheint Russland als Verfall des Verfalls

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Wir haben kaum noch unabhängige Medien“, so Sergej Sokolow von der Zeitung ‚Nowaja Gaseta‘ im Gespräch mit ZDF-Korrespondent Christian Semm zur Pressefreiheit in Russland.

moma 04.12.2020, 5 Min., ZDF

Die Zahl der Medien in Russland, die darüber berichten, was nicht funktioniert, die Roß und Reiter nennen, sind ziemlich im Sinkflug. Russland ist eines der Länder, die die Presse- und Meinungsfreiheit ziemlich unterdrückt. Behörden drohen Reporterinnen und Reportern mit Klagen und Verhaftungen. Nach einem neuen Gesetz können Medienschaffende neuerdings als ausländische Agenten eingestuft werden.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Putins Russland deshalb auch auf Platz 149 von 180 Staaten. [auf der Rangliste stehen Norwegen, Finnland und Dänemark auf den ersten drei Plätzen].

Christian Semm ist in Moskau unser Korrespondent: wie frei können denn russische Journalistinnen und Journalisten über Politik tatsächlich noch berichten?

Semm: Schönen guten Morgen aus dem ZDF-Studio in Moskau. Die Pressefreiheit in diesem Land, in Russland, die ist eigentlich in der Verfassung verankert. In der Realität sieht man davon aber sehr wenig.

Seit dem Jahr 2000, seitdem Wladimir Putin an der Macht ist, hat ‚Reporter ohne Grenzen‘ alleine 36 Morde an Journalistinnen und Journalisten registriert. Und ansonsten ist die Arbeit einfach sehr gefährlich für Journalistinnen und Journalisten. Die Arbeit wird behindert, es gibt Gerichtsprozesse mit Haft oder Geldstrafe.

Wir wollen heute Morgen hier mit jemandem reden, der sich damit auskennt, weil er es jeden Tag erfährt.

„Schönen Guten Morgen, Sergej Sokolow, stellvertretender Chefredakteur der Nowaja Gaseta, eine der letzten freien Zeitungen in Russland. Wir werden gleich ausführlich miteinander reden.

Herr Sokolow, wir haben gerade nochmal die Bilder gesehen von Anna Politkowskaja. Welche Rolle spielt dieser ungeklärte Mordfall heute noch?

Sokolow: Tatsache ist, dass ich nicht davon ausgehe, dass in den nächsten zwei Jahren alles aufgeklärt wird. Und die Auftraggeber sind noch nicht ermittelt worden und bald verjährt auch diese Sache. Und auch der Mord an Boris Nemzow wird nicht gerade aufgeklärt. Alles zeugt von einer Straflosigkeit in dieser Terrorgeschichte.

Semm: Auch sie haben schon Einschränkung und Bedrohung erlebt. Was ist ihnen passiert?

Sokolow: Also ich hatte ein Gespräch mit dem Leiter des Ermittlungskomitees der Föderation, der war in einem Wald aufgelegt, aber das war keine Drohung, das würde ich nicht so einschätzen. Das sind so die Unkosten unseres Berufes hier in Russland.

Semm: Sie sagen, Unkosten ihres Berufs. Wie schwer ist es denn unter diesen Bedingungen eine Zeitung zu machen in Russland, die unabhängig und frei berichtet?

Sokolow: Wenn wir von großen Zeitungen sprechen, die in Moskau erscheinen. Es geht, was die regionalen Massenmedien angeht, sind sie in einer katastrophalen Situation, sind unterfinanziert. Menschen werden bedroht. Und die Journalisten müssen auf Blogs ausweichen.- Ein Beispiel ist die Journalistin Irina Slawina, die sich verbrannt hat, nachdem Durchsuchungen gelaufen sind in ihrer Wohnung.

Semm: Präsident Putin ist jetzt seit 20 Jahren in Russland an der Macht. Was würden Sie sagen, wie hat sich die Medienlandschaft unter Putin in diesen Jahren verändert?

Sokolow: Die Medienlandschaft hat sich verändert. Und zwar sehr stark. Alles fing damit an. dass die Massenmedien umgetrimmt wurden, damit sie dem Staatspräsidenten und den Oligarchen passen. Momentan haben wir kaum noch unabhängige Medien in Moskau, aber auch im Rest des Landes.

Momentan läuft ein aktiver Kampf - das konnte man sich gar nicht vorstellen – des Jahrhunderts. Ein Kampf gegen das Internet, weil das eine Informationsfalle für die Machthaber geworden ist und die Zensur im Internet verstärkt sich.

Semm: Vielen Dank, Sergej Sokolow für diese Eindrücke und damit zurück nach Berlin.


Was soll bloß aus Russland werden?

Der Anti-Putin Alexej Nawalny, der aus dem unübersehbaren Lager der Vasallen und Hofschranzen im mehr oder weniger nahen Umkreis von Wladimir Putin heraus vergiftet wurde, hat ein Gesicht, er ist erkennbar. Er fordert u.a. Sanktionen gegen Superreiche, die ihre Jachten in europäischen Häfen parkten oder Immobilienbesitz in Europa hätten. Erkennbar sind auch zwei DJs aus Belarus, die für einen Song zehn Tage Haft bekamen. Das sind Vorboten einer kommenden Zeit Eurasiens, die sich nicht von selbst herstellt. Für sie muss gekämpft und wenn nötig auch gelitten und im Extremfall gestorben werden, wie sich in Belarus zeigt.

Putin hat den liberalen Reformer Anatoli Tschubais, der ihm mal geholfen hatte und der sich in der beginnenden Modernisierungswelle der Neunziger Jahre - auch wenn er nicht alles richtig gemacht hat – Verdienste erworben hat, serienmäßig auf Ruhestandsposten abgeschoben. Dieser hatte auch gegen die Gleichschaltung des unabhängigen TVs unter Putin protestiert. Mit Putin ist der starre Politruk der Sowjetära wiederauferstanden, indem er die Medien auf Linie brachte. Seither ist Russland eine publizistische Wüstenei. Patriarchalisch wie er tickt, ist ihm anscheinend nur an der Restauration verloren gegangener Größe gelegen.

Was eigentlich will Putin? Während seiner Auftritte und Tischsitzungen tête à tête scheint er immer nur ins Leere zu stieren, ein Modell der Zukunft für die russische Wirtschaft scheint ihm nicht zu dämmern, am Ende des fossilen Zeitalters, das sich dem Ende zuneigt. Er kann auch Menschen nicht so führen, dass sie einem Land guttun, um es durch die Zeit zu manövrieren. Er vermag nicht zu motivieren, nicht für eine künftige große Sache zu begeistern. Er scheint auch kein Problembewusstsein für die rückständigen Verhältnisse zu haben. Wie lange will er noch auf die fossilen Energieträger setzen, deren Tage auf dem Weltmarkt gezählt sind und die Erderhitzung vorantreiben. Besser früher als später die Vollwende vollziehen, denn bis zum Point of no return, dem vielbesagten Kipppunkt, sind es nur noch ganz wenige Jahre. Statt Chancen wahrzunehmen schleppt er sich durch die kostbare Zeit.

Massenhaft unschöne Szenen im TV

Seit er mal eine Frau, die sich auf dem Roten Platz moderat kritisch ausließ, umgehend verhaften und abtransportieren ließ, ist einem das letzte Band zu Russland zerrissen. Diese Aufnahme lagert im Video-Archiv, es ist eine der bedeutendsten und krassesten. Das war ein Schock. Wenn er kein Idiot ist, freute er sich, wenn investigative JournalistInnen die Reform Russlands voranbringen wollen.

Aber Putin bleibt ein Rätsel, weil er optisch wie ein unbeschriebenes Blatt erscheint. Welche Zukunft präferiert und repräsentiert er vorausschauend? Eine offene, der Zukunft zugewandte oder denkt er, die völkisch national-sentimentale Retro-Masche würde auf immer ein Land tragen. Wo doch die Slaven auch schon Wanderungen und damit verbundene Durchmischungen in frühgeschichtlicher Zeit durchlebt haben und selbst ein Mischvolk sind. Den öffentlichen Putin kennt der interessierte Beobachter nur als Leerstelle, jedes Mal schaut er begriffslos aus der Wäsche an der Kamera vorbei.

Er sollte die Tatsache, dass die fossilen Energieträger ein Auslaufmodell sind, bewusst aufgreifen und - der Zukunft zugewandt - von ihnen Abschied nehmen, um die nördliche Halbkugel - und damit die ganze Welt - vor dem hochgefährlichen Dahinschmelzen der Permafrost-Böden zu bewahren. Kennt er als deutschsprachig- und Deutschkultursozialisierter nicht an das elegische „Denk ich an Russland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht?" Hat er bildungsmäßig die deutsche und westeuropäische Aufklärung denn verschlafen? Aufklärung, Vernunft und Frauenpower reichten schon mal bis weit nach Russland hinein. Warum nutzt er nicht seine ausnehmende Bildungsgeschichte für das anstehende Zeitfenster? Nicht mal eine Merkel vermag ihm auf den augenblicklichen Stand des Wissens und der Erkenntnis zu verhelfen. Er scheint immer nur unwillig, in langfristig zivilisatorischen Kategorien zu denken und zu planen. Er ist auch immer noch der abgrundtief misstrauische Geheimdienstmann, der sofort in Abwehrstellung geht, wenn das Projekt Zukunft ihn unvermittelt angeht.

Undurchsichtig ist sein Verhältnis zu Oligarchen, Patronen, lokalen Autoritäten, Seilschaften und mafiosen Lagerbildungen, die hinter seinem Rücken ihre Spiele veranstalten. Es ist eine informelle, verdeckte Geheimgesellschaft, die die Entwicklung in eine aufgeklärte, demokratisch-bürgerrechtlich verfasste Zeit hintertreibt. Es bleibt der Verdacht, dass er seinen Laden nicht im Griff hat. Sein Sündenregister gegen die Freiheit in der Demokratie und die europäische Bürgerrechtsidee ist lang. Russland steckt mit seinem fahlen Führer fest in der asiatischen Despotie. Mit ihm feiert der Antiintellektualismus und Autoritarismus um Jahrzehnte zeitverschoben befremdliche Urständ. Er ist nicht anders zu bezeichnen als ein politischer Komplettausfall.

Foto:
Sergej Sokolow
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