Der Tod schleicht durch die Nachbarschaft
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sie sind Biedermänner und Biederfrauen. Moral und Solidarität genießen bei ihnen keinen hohen Stellenwert.
Möglicherweise fühlen sie sich noch bestärkt durch missverständliche Appelle von Politikern. Letztere mahnen zwar eindringlich zur Vernunft angesichts der täglich wieder wachsenden Bedrohung durch das Covid-19-Virus. Aber sie kündigen auch an, dass keine Polizeistreife darüber wacht, ob sich in den Wohnungen zwei Haushalte mit maximal fünf Personen oder ein Haushalt plus maximal vier direkten Verwandten zum weihnachtlichen Treffen versammeln. Statt sorgenvoller, aber letztlich unverbindlicher Miene von Ministerpräsidenten könnte ein Blick in die Corona-Todeszonen abschreckender und gesundheitlich nachhaltiger sein.
Etwa Szenen aus einer Intensivpflegestation: Menschen, die nach Luft japsen. Patienten, die ins künstliche Koma versetzt werden mussten und beatmet werden. Schwererkrankte, die – selbst für Laien erkennbar – diese Tortur vermutlich nicht überleben werden.
Schnitt und Szenenwechsel: Ein Blick auf andere, die wegen Herzinfarkten und Schlaganfällen in Kliniken eingeliefert wurden und ebenfalls der Intensivbetreuung bedürfen. Zwar sind Betten vorhanden und zumeist auch die lebensrettenden technischen Instrumente. Aber es mangelt an ausgebildeten Intensivpflegekräften. Die bewegen sich in ihren Schutzanzügen mit professioneller Sicherheit durch die Reihen, setzen Kanülen, überprüfen die Lebenszeichen auf den Monitoren, drehen zu zweit oder dritt Patienten, um Wundliegen und Druckbrand vorzubeugen. Unausgesprochen, aber erkennbar schwebt die Frage im Raum: Wem kann man noch helfen, wer muss aufgegeben werden?
Neuer Schnitt, eine weitere typische Szenerie: Panoramaansicht einer Leichenhalle. Hier sind die Zahlen der Verstorbenen, die täglich in „Tagesschau“ und „Heute“ gemeldet werden, physisch greifbar. Die Kühlfächer sind voll. Davor stehen Bahren mit verhüllten Toten. Neuverstorbene werden hereingeschoben, man erkennt die Fußzettel mit Name und Covid-Warnhinweis.
Dann ein Kameraschwenk ins Krematorium. Vor dem Verbrennungsofen stapeln sich die Särge. Der Schauplatz mutet an wie ein Warenlager in Zeiten von Hochkonjunktur. Pietät hat hier keinen Platz mehr, es geht lediglich um Entsorgung.
Zurück in die Welt der Noch-Verschonten, die nur wenige Straßen entfernt liegt. Hier erklingen in überfüllten Wohnzimmern weihnachtliche Gesänge. Die Sonderangebote von Aldi, Lidl und anderen Vollversorgern zeigen ihre Wirkung, es wird gefressen, gerülpst, gesoffen und gestritten. Und es wird sich ins sprichwörtliche Fäustchen gelacht. Denn man hat den staatlichen Anordnungen den Stinkefinger gezeigt. Sollen sich doch die ewigen Gutmenschen daran halten.
Wenn das Virus zu Gefühlen in der Lage wäre, würde es mitfeiern. Denn in dieser Umgebung findet es seine Wirte. Ohne einen Wirt würde es austrocknen, vielleicht irgendwann völlig verschwinden.
Dafür, dass es soweit nicht kommt, sorgen die, welche sämtliche Warnungen in den Wind schlagen und sich auch nicht von täglich 20.000 bis 30.000 Neuinfizierten und einem knappen Tausend Toten persönlich betroffen fühlen.
Nie hätte ich gedacht, dass sich auch unter meinen Bekannten solche Gemütsakrobaten befinden. Sie haben mich sogar eingeladen zu ihrer Runde, auch für Gottlose wie mich sei noch Platz unterm Tannenbaum. Statt „Heilige Nacht“ dürfte ich gern die „Internationale“ anstimmen. Und Sie versuchten, mir einzureden, dass ich die Beschränkungen völlig falsch verstanden hätte. Doch ich kann lesen, beherrsche sogar das verstehende Lesen.
Mir wird bewusst, dass ich nach der Corona-Pandemie, vorausgesetzt, ich überlebe sie, deutlich weniger vermeintliche Freunde haben werde. Denn mit Salon-Humanisten möchte ich künftig nichts mehr zu tun haben. Gesinnungsethik offenbart sich auch und nicht zuletzt an praktizierter Verantwortungsethik. Es scheint, dass ich bereits länger unter die Verantwortungslosen geraten bin.
Foto:
Arbeit auf einer Covid-19-Intensivstation
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