Bildschirmfoto 2021 01 09 um 00.27.37Der Sieg der Demokraten Jon Ossoff und Raphael Warnock für den US-Senat in Georgia knüpft an eine alte Allianz zwischen Juden und Afroamerikanern beim Kampf um Bürgerrechte an

Andreas Mink

New York (Weltexpresso) - Seit er ein kleiner Junge war, hatte Raphael Warnock ein Idol: Martin Luther King Jr., der Vorkämpfer und Märtyrer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Warnock wurde 1969 drei Monate nach der Ermordung von Martin Luther King in ärmlichen Verhältnissen in Savannah, Georgia, geboren. Mit einem Studium am «historisch schwarzen» Morehouse College in Atlanta und anschließend am Union Theological Seminary in Manhattan folgte er den Spuren seines Vorbilds. Und 2005 wurde er nach Jahren in New York tatsächlich «Senior Pastor» an der ehrwürdigen Ebenezer Baptist Church im historischen Stadtkern von Atlanta und damit Nachfolger von King und dessen Vater. Beide hatten dort als Seelsorger gewirkt.

Selbstverständlich hat Warnock im Wahlkampf um einen Sitz im US-Senat für Georgia immer wieder erklärt, er wolle die Mission von Martin Luther King für Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit fortsetzen.


Geduldig und erfolgreich mobilisiert

Am Morgen nach seinem Sieg gab sich Warnock gewiss, dass Martin Luther King, aber auch dessen Weggefährte, Rabbiner Abraham Heschel, nun gemeinsam im Himmel lächeln: Er als Senator wolle sie stolz machen. Dies mag verstiegen wirken oder auch politisch kalkuliert. Schließlich hatten ihn die Republikaner unentwegt als Radikalen, Kommunisten und Feind Israels attackiert. Aber Warnock hat diese Mission immer schon als Pastor gelebt. Dies war auch im Herbst 2014 bei einem Besuch bei ihm in Atlanta zu erleben. Warnock gab tachles damals ein Interview in seinem Büro und betonte seine Verpflichtung auf Fürsorge für Arme oder kriminelle Jugendliche, aber auch auf Chancengleichheit und Partizipation von Schwarzen an Wahlen und Politik.

Das Gespräch ergab sich aus einer Pressekonferenz im Kapitol von Atlanta, zu der die damalige Fraktionsführerin der demokratischen Minorität, Stacey Abrams, in ein winziges Sitzungszimmer gerufen hatte. Es ging um den Zugang von Afroamerikanern zu Wahlen – im Süden ein brisantes, mit der Sklaverei und der systematischen Unterdrückung von Schwarzen nach ihrer Befreiung verbundenes Thema. Abrams ist heute ein Mega-Star ihrer Partei und legte damals bereits mit geduldiger Mobilisierungsarbeit die Grundlagen für den Sieg von Ossoff und Warnock. John Lewis war erschienen, der Bürgerrechtler und Weggefährte von Martin Luther King, um ihren Kampf für schwarze Wähler zu unterstützen, aber auch Warnock und Rabbiner Peter Berg, der Leiter von «The Temple» in Atlanta, der grössten Reformgemeinde im Süden. Der im letzten Juli verstorbene Lewis war bekanntlich der politische Mentor eines zu jener Zeit noch jungen Praktikanten namens Jon Ossoff.


Die Verantwortung eines großen Erbes

An jener Pressekonferenz wurde deutlich, dass Rabbiner Berg und Reverend Warnock schon lange eng in Sachen Wahlrecht und soziale Gerechtigkeit zusammengearbeitet hatten. Und beide waren sich dabei immer bewusst, «auf den Schultern von Giganten zu stehen» – eben von Rabbiner Heschel und Martin Luther King, aber auch von Rabbiner Jacob Rothschild (1911–1973). Dieser hatte als Verbündeter schwarzer Geistlicher ebenfalls eine bedeutsame Rolle im Kampf für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner in den ehemaligen Sklavenstaaten gespielt. Sein enges Verhältnis zu Martin Luther King hatte den rassistischen Ku-Klux-Klan im Oktober 1958 zu einem Bombenanschlag auf «The Temple» provoziert.

Dieser gesamte Hintergrund macht die historische Bedeutung der Wahlen vom Dienstag deutlich: In Georgia hat ein neues Bündnis aus Afroamerikanern und linksliberalen Weißen eine in den 1870er Jahren geschaffene Ordnung aufgebrochen – oder zumindest schwer erschüttert –, die weiter Schwarze benachteiligt. Dazu gehört, dass gerade Südstaaten unter dem Deckmantel von «kleiner Staat und niedrige Steuern» bei Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder öffentlicher Gesundheit seit Jahrzehnten hinterher hinken. Als Motiv spielt dabei Rassismus mit: Schließlich soll «das hart erarbeitete Einkommen» vorgeblich fleißiger Weißer laut der republikanischen Rhetorik keinesfalls über Steuern an «faule Minoritäten umverteilt» werden.


Meilenstein für Warnock

Ossoff und Warnock waren Politiker genug, das Reizthema Steuern im Wahlkampf zu vermeiden. Aber sie kommen mit dem Ruf nach einer Erneuerung Amerikas durch massive Investitionen in das langfristige Gemeinwohl nach Washington. Dies zu einem Zeitpunkt, da die Demokraten insgesamt zu derartigen, tiefgreifenden Reformen gerade beim Klimawandel entschlossen scheinen. Es ist bemerkenswert, dass in dieser Stunde der Gelegenheit und Krise, wie sie am Mittwoch beim Sturm eines von Trump aufgewiegelten Mobs auf das US-Kapitol deutlich wurde, die alte Allianz von Afroamerikanern und jüdischen Progressiven eine Renaissance erlebt. Dabei werden die Demokraten den Beitrag schwarzer Wähler, nicht allein in Georgia, zu ihrer Rückkehr an die Macht in Washington nicht ignorieren können. Schliesslich war die Wahlbeteiligung in Regionen mit starken schwarzen Bevölkerungsanteilen besonders hoch. So kann Warnock nun als zehnter Schwarzer überhaupt und zweiter aus den Südstaaten in den Senat einziehen.

Stacey Abrams hatte Warnock vor einem Jahr für das Rennen rekrutiert. Beide dürften die dann auch eintreffenden, brutalen Attacken der Republikaner auf Warnock erwartet und daraus die Hoffnung auf eine vehemente Gegenreaktion schwarzer Wähler gezogen haben, die in Georgia 30 Prozent der Bevölkerung stellen. Am Wahlabend erklärte ein demokratischer Insider den Sieg Warnocks denn auch so: «They attacked the black church» («Sie griffen die schwarze Kirche an») – und damit den von Schwarzen nach der Befreiung aus der Sklaverei selbst geschaffenen Rückhalt und Grundlage ihrer Existenz als Gemeinschaft. Warnock hatte zudem mit Anzeigen, die ihn in gepflegter Kleidung beim Spaziergang mit seinem Beagle zeigen, geschickt rassistische Klischees unterlaufen.


Republikaner vor Zerreissprobe

Ossoffs Sieg fiel dagegen knapper aus, da er in dem bereits 2014 in den Senat gewählten David Perdue einen etablierten Republikaner zum Gegner hatte. Warnocks Gegenspielerin Kelly Loeffler wurde erst 2019 von Gouverneur Brian Kemp als Nachfolgerin für den aus Gesundheitsgründen vorzeitig abgetretenen Johnny Isakson eingesetzt. Auch Ossoff hatte im Wahlkampf permanent auf seine enge Beziehung zu John Lewis verwiesen und sich so in die Tradition der Rabbiner Heschel und Rothschild gestellt. Natürlich fand sein Erfolg in der jüdischen Gemeinschaft landesweit ein breites Echo. So stellte denn auch Jodi Rudoren vom «Forward» stolz auf Twitter fest, mit dem Erfolg von Ossoff sei im Kongress ein «Minjan von zehn jüdischen Senatoren zusammengekommen: @RonWyden, @SenSchumer, @DianneFeinstein, @BenCardinforMD, @BernieSanders, @MichaelBennet, @brianschatz, @JackyRosen, @SenBlumenthal».

Und mit einiger Sicherheit wird nun Chuck Schumer als erster Mehrheitsführer im Senat jüdischer Herkunft in die Geschichte eingehen. So dürfte der Handlungsspielraum von Joe Biden als Präsident mit zwar knappen Mehrheiten in beiden Kongresskammern deutlich größer werden. Die Ära von Mitch McConnell als «Leader» ist vorbei. Die Republikaner stehen dank der politischen Brandstiftung von Donald Trump vor einer Zerreißprobe, die Beobachter noch vor den Feiertagen kaum erwartet hatten. Schließlich hat die «Grand Old Party» (GOP) am 3. November ihre Fraktion im Repräsentantenhaus deutlich ausbauen und im Senat immerhin 50 Sitze halten können.


Wirtschaft appelliert an Vernunft

Doch nun entpuppt sich die zynische Kalkulation jüngerer Konservativer wie Josh Hawley oder Ted Cruz als Desaster: Die Graduierten der Elite-Unis Harvard und Princeton bieten sich als Erben Trumps an und locken dessen Wähler mit populistischen Attacken auf das Establishment. Doch etliche Anhänger wollen sich offenkundig in ihrem von Trump geschürten Hass auf das «System» nicht mehr mit Phrasen abspeisen lassen, sondern zerstörerisch handeln. Jetzt aber melden sich Wirtschaftsverbände und Industriekapitäne mit Aufrufen an die Republikaner, die Verfassungsordnung zu gewährleisten und den unbestreitbaren Wahlsieg Bidens endlich zu akzeptieren. Die mächtige «National Association of Manufacturers» forderte Vizepräsident Mike Pence am Mittwoch zur Beihilfe auf, um Trump sofort aus dem Amt zu entfernen.

Statt also die Reihen zu schliessen und auf die Zwischenwahlen 2022 zu fokussieren, dürfte die GOP in innere Konflikte abstürzen. Dadurch aber ergeben sich für Ossoff, Warnock und ihre Partei neue, noch kaum überschaubare Chancen für eine Politik im Interesse der breiten Bevölkerung – und über Rassenschranken hinweg.


Foto:
Raphael Warnock (links) und Jon Ossoff (rechts).

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8.1. 2021