Informationen über die Situation zwischen Armenien und Arzach sowie Aserbaidschan
Bernd Rudolf
Heidelberg (Weltexpresso) - Die Menschen in Europa dürften dem neuen Jahr 2021 mit gemischten Gefühlen entgegengesehen haben, mit Erleichterung, mit Skepsis, mit Trauer aber auch mit Hoffnung. Nirgendwo sonst allerdings dürfte beim Jahreswechsel mehr Trauer, mehr Hoffnungslosigkeit und mehr Enttäuschung vorgeherrscht haben als in Armenien und Bergkarabach.
Im Juli 2020 war es zu Scharmützeln zwischen Armenien und Arzach (wie die offizielle Bezeichnung der Republik Bergkarabach lautet) und Aserbaidschan gekommen, die ab September 2021 in einen offenen Krieg mündeten, der schließlich am 9. November durch einen von Russland vermittelten Waffenstillstand beendet wurde. Russische Friedenstruppen sind seither in der Konfliktzone stationiert. Die Republik Arzach musste einen großen Teil der Anfang der 1990er Jahre eroberten Gebiete an Aserbaidschan zurückgeben, einschließlich Teile der ursprünglichen Autonomen Republik Bergkarabach. Der Nato-Partner Türkei war Verbündeter Aserbaidschans und bezahlte Tausende von syrischen Söldnern, um an dem Kampf gegen den christlichen Vorposten im Kaukasus teilzunehmen; Israel hatte den Herrscher von Baku ohne jeden Skrupel mit modernster Drohnentechnologie ausgestattet.
Der Westen, auf den der im Mai 2018 an die Regierung gekommene Ministerpräsident Nikol Paschinjan so große und so vergebliche Hoffnungen gesetzt hatte, war zu sehr mit Corona oder mit sich selbst beschäftigt, um in dem Konflikt vermittelnd einzugreifen. Die deutsche Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben das getan, was sie am besten können: Angela Merkel hat geschwiegen und Heiko Maass hat sich gewunden wie ein Aal in der Reuse. Deutschland hat keinerlei Position bezogen und eine Äquidistanz zu den beiden Kriegsparteien eingenommen. Dabei hätte es für Deutschland mindestens drei Gründe gegeben, sich eindeutig an die Seite Armeniens zu stellen:
Erstens handelt es sich bei Aserbeidschan um eine totalitäre Familiendiktatur in zweiter Generation, in der Menschen- und Minderheitenrechte ständig verletzt werden; dafür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen, etwa das Schicksal des geächteten aserbaidschanischen Nationaldichters Akram Aylisli, der für seinen Roman „Steinträume“, in dem er es wagte, Sympathie für die Armenier zu äußern, schwersten staatlichen Repressalien ausgesetzt war, oder die Zerstörungen sämtlicher armenischen Kulturgüter in der zwischen Armenien und der Türkei gelegenen aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan in den 1990er Jahren. Bei Armenien hingegen handelt es sich bei allen politischen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten um eine mit sich selbst ringende parlamentarische Demokratie.
Zweitens stellte sich Deutschland mit seinem Schweigen 2020 in eine unheilige Tradition der eigenen Geschichte, denn auch während des Ersten Weltkrieges hat der engste Verbündete des Osmanischen Reiches zum Völkermord an den Armeniern 1915 geschwiegen, obwohl die deutschen Militärs und Diplomaten in der Türkei Bescheid wussten und ihre jeweiligen Behörden in Berlin informierten. Öffentlichkeit über dieses Menschheitsverbrechen hatte der evangelische Pfarrer Johannes Lepsius hergestellt, der eine Broschüre mit Einzelheiten der Verfolgung des armenischen Volkes an zahlreiche „Multiplikatoren“ sandte, darunter alle Reichstagsabgeordneten. Auf diese Aktion von Lepsius gab es keine Reaktion der obersten Volksvertreter – mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Karl Liebknecht, der am 11. Januar 1916 im Reichstag offen von einer Ausrottung der Armenier gesprochen hat, wofür ihm vom Reichstagspräsidenten unter dem Gelächter des Plenums das Wort entzogen wurde.
Drittens war Aserbaidschan in diesem Konflikt eindeutig der Aggressor; und der Angriffsbefehl für diesen Krieg wurde in Ankara gegeben, das Aserbaidschan logistisch und propagandistisch unterstützte. Seit wann sympathisiert Deutschland mit Ländern, die Angriffskriege führen? Seit wann sympathisiert Berlin mit Staaten wie Aserbaidschan, die Kriegsgefangene hinrichten lassen?
Die Tatsache, dass Deutschland, also in erster Linie die Bundesregierung und ihr sozialdemokratischer Teil mit dem Außenminister an der Spitze, als Mitglied der für Bergkarabach zuständigen Minsk-Gruppe sich aus diesem Konflikt herausgehalten und damit zwei muslimischen Aggressoren und Diktatoren einen Triumph über das älteste christliche Land der Welt ermöglicht hat, wird dem Westen noch schwer auf die Füße fallen. Appeasement-Politik gegenüber Diktatoren beschwichtigt diese nicht, sondern ermuntert sie zu weiteren Aktionen, wie man in Zypern, in Libyen, in Syrien und im Nordirak noch sehen wird. Man sieht die Folgen des diplomatischen Wegduckens übrigens auch in Deutschland. Wer glaubt, Bergkarabach sei weit entfernt von unserer mitteleuropäischen Friedfertigkeit und Humanität, der lese sich die Kommentare in gebrochenem Deutsch auf den entsprechenden Internet-Plattformen und in den sozialen Netzwerken durch, in denen über den Bergkarabach-Konflikt berichtet wurde und wird. Die deutsche Öffentlichkeit müsste über diese antichristliche und antiwestliche Rhetorik voller hasserfüllter, brachialer Gewalt in Teilen der türkischen Community in Deutschland eigentlich sehr erschrocken sein. Gelungene Integration sieht jedenfalls anders aus.
Notwendig wäre eigentlich die Einleitung von Sanktionen gegen Aserbaidschan. Europa verhängt Sanktionen gegen Weißrussland und droht nach der Affäre Nawalny auch Russland damit; nach der Annexion der Krim wurden bereits Sanktionen gegen Moskau verhängt. Der Kriegsaggressor Aserbaidschan soll hingegen ungeschoren davonkommen? Kann ein solches Land Mitglied des Europarates bleiben? Müsste es diese Mitgliedschaft nicht zumindest ruhen lassen? Auf der Siegesfeier in Baku hat Herr Erdogan verkündet, dass jetzt der Geist von Talât Pascha in Frieden ruhen könne. Talât Pascha war einer der Hauptverantwortlichen für den von der Türkei hartnäckig geleugneten Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915. So bleibt den Armeniern im Moment nur ein Trost: Kein Diktator herrscht ewig und imperialer Größenwahnsinn hat sich noch nie als dauerhaft erfolgreich erwiesen. Die Geschichte ist immer im Fluss und kennt keine abschließende Antwort. Darin liegt auch ein Stück Hoffnung!
Fotos:
Titel: Das berühmteste Kloster Armeniens: Chor Virap mit dem heiligen Berg der Armenier, dem Ararat. Der Ararat steht aud türkischem Territorium, dazwischen eine schwerbewachte und völlig undurchlässige Grenze.
Die Gedenkstätte Zizanakaberd ("Schwalbenfestung") oberhalb von Eriwan mit dem gespaltenen Obelisken und dem Gedenkraum mit ewiger Flamme zur Erinnerung an die 1,5 Millionen Opfer des Völkermords ab 1915.
Besucher vor der ewigen Flamme in Zizanakaberd.
Ihnen gehört die Zukunft: eine armenische Schulklasse im Kloster Tatew in der Nähe der Stadt Goris.
alle Fotos ©Bernd Rudolf