Marsch der revolutionaren Arbeiter und Soldaten im November 1918 am Brandenburger TorHans Mayer über Alfred Döblins „November 1918“ und die Rolle Friedrich Eberts

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vor über 42 Jahren, am 14. August 1978, rezensierte der renommierte Literaturwissenschaftler Hans Mayer Alfred Döblins Opus „November 1918“ im SPIEGEL (Nr. 33/1978).

Dieses dreiteilige Werk, eine Mischung zwischen Sachbuch und Roman, war zum 100. Geburtstag Döblins (10.08.1978) zum ersten Mal vollständig erschienen. Im ersten Band des zweiten Teils, der den Titel „Das verratene Volk“ trägt, beschäftigt sich Döblin vorrangig mit Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der Mehrheitssozialisten (SPD), Reichskanzler und baldigen Reichspräsidenten, sowie dem Generalquartiermeister Wilhelm Groener. Letzterer residiert und regiert in Kassel, dem vorübergehenden Sitz der Obersten Heeresleitung (OHL). Es sind die Tage und Wochen nach der erzwungenen Abdankung des Kaisers und dem daraus resultierenden Ende der Monarchie. In deren Folge hatte sich der Rat der Volksbeauftragten (RdV) als Übergangsregierung konstituiert.

Diese ist paritätisch besetzt von Mitgliedern der Mehrheitssozialisten (MSPD) und der Unabhängigen Sozialisten (USPD). Geführt wird sie von Friedrich Ebert als vorläufigem Reichskanzler. Der RdV sieht seine Hauptaufgaben in der Zerschlagung des kaiserlichen Militär- und Beamtenapparats, in der geordneten Rückführung des Feldheers aus Frankreich und Belgien, in der Behebung der sozialen Not und in der Überführung der Schlüsselwirtschaft in Gemeineigentum. Diesem Ziel steht Friedrich Ebert jedoch skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Vorgänge in Russland haben den ohnehin konservativen Sozialdemokraten noch mehr als zuvor am Sinn einer Revolution zweifeln lassen. Er setzt vielmehr auf die Zusammenarbeit mit den alten Kräften, was von seinen Gegnern in der OHL, allen voran Wilhelm Groener, erkannt und ausgenutzt wird. Dadurch wird die OHL, ohne wesentliche personelle Veränderungen und ohne eine Überprüfung ihrer politischen Zielsetzungen, nominell zum Instrument des demokratischen Staats. Auch ihre materiellen Privilegien werden nicht angetastet. In einem Erlass der Regierung vom 15. November 1918 bleiben alle aus dem Kaiserreich herrührenden Gehalts-, Pensions- und sonstigen Ansprüche in Kraft.

Vor diesem Hintergrund stellt sich damals wie heute die Frage, ob nicht in Wahrheit die demokratische Regierung zum Instrument der alten Herrschaft wurde und ob das OHL mit diesem Zweckbündnis auf Zeit die Wiederherstellung der Monarchie oder zumindest die einer autoritären Staatsform betreiben wollte. Und unabweisbar stellt sich die Frage: Hat Friedrich Ebert die Revolution verraten und möglicherweise auch die Demokratie?

Alfred Döblin sah das so. Ebenso Kurt Tucholsky, Sebastian Haffner oder der Historiker Arthur Rosenberg. In einer der jüngeren historischen Analysen, der von Alexander Nikolajczyk („Verrat an der Revolution? Das Bündnis Ebert – Groener“, München 1999), wird diese Sicht zumindest nicht bestritten.

Von alledem war bei den Würdigungen zu Eberts 150. Geburtstag am 4. Februar wenig die Rede, auch nicht im Weltexpresso-Beitrag „Wegbereiter der Demokratie in schwierigen Zeiten und unter schwierigen Umständen“, wo es lediglich hieß „Ebert ... ein Mann mit hohem Pflichtbewusstsein, der in der Lage war, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen auf seinem Weg zum ersten demokratischen Staatsoberhaupt Deutschlands.“ Oder an anderer Stelle: „Sein stets konsequenter politischer Einsatz hat nicht nur wesentlich zur Stabilisierung der Weimarer Republik beigetragen.“

Man sollte auch zum 150. Geburtstag eine kritische Auseinandersetzung mit Friedrich Ebert führen in dem Sinn, wie es Alfred Döblin vorgemacht hatte und Hans Mayer aufgriff. Interessant wäre, zu eruieren, wie die Ausstellung der „Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte“ mit Kritik an Friedrich Ebert umgeht. Wir kommen darauf zurück!

Alfred Döblin war mit seinem Roman der Wirklichkeit näher. Er beschreibt ausführlich fiktive, aber durchaus vorstellbare Vorgänge zwischen Ebert und der OHL in Kassel und legt dafür als Maßstab die realen Ereignisse und späteren Folgen zugrunde. Beispielsweise Eberts Aufruf an die Armee vom 12. November 1918, mit dem er die Soldaten auffordert, das Vorgesetztenverhältnis zum Offizier aufrecht zu erhalten. Er begründet das mit der Notwendigkeit einer geordneten Rückführung des Heeres. Parallel dazu wird der Einfluss der Soldatenräte deutlich verringert. Damit erhält die OHL eine Blankovollmacht. Nunmehr kann sie auf legale Weise versuchen, das Feldheer gegen die heimische Rätebewegung einzusetzen.

Am 10. Dezember marschieren die ersten der zurückkommenden Soldaten plangemäß in Berlin ein. Ebert empfängt sie zusammen mit General Lequis am Pariser Platz. In einer Begrüßungsansprache würdigt er die Leistungen der Soldaten im Krieg. Nahezu überschwänglich und völlig im Sinn des abgewirtschaftet habenden Systems erklärt er: ,,Kein Feind hat euch überwunden! Erst als die Übermacht des Gegners an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben....". Eine völlig überflüssige Verbeugung vor den Feinden der Demokratie, die sich zur Dolchstoßlegende entwickeln sollte.
Als am 23. Dezember die Volksmarinedivision wegen ausstehender Lohnzahlungen den Berliner Stadtkommandanten Otto Wels als Geisel nimmt, wird Ebert erneut von der OHL unter Druck gesetzt. Er entschließt sich in einer nächtlichen Kabinettssitzung, die ohne die Vertreter der USPD stattfindet, zum Angriff. In buchstäblich letzter Minute kann er verhindern, dass es zwischen den anrückenden Truppen und den bereits abrückenden Matrosen zu einem Gefecht kommt. Doch sein Verhalten wirkt als Einladung vor allem an die sich bildenden Freikorps, ihren Kampf gegen Demokraten und Sozialisten mit aller Gewalt und Grausamkeit fortzusetzen.

Die historische Schlussfolgerung kann nicht anders lauten, als dass Ebert die Revolution insoweit verraten hat, indem er sich nicht aktiv für sie einsetzte und den Wünschen der Militärs immer wieder und zumeist ohne Not nachgab.

Hans Mayer schloss seine Rezension mit den Worten: „Ein Buch für Bundeskanzler, Gewerkschaftsführer und Unternehmer, für die Hardthöhe [damals Sitz des Bundesverteidigungsministeriums in Bonn] wie für Rudi Dutschke. Aber sie werden es nicht lesen.“ Bei Rudi Dutschke bin ich mir nicht sicher; denn obwohl er an den Folgen des Attentats vom April 1968 litt, verfolgte er die zeitgeschichtliche Diskussion sehr intensiv. Im Blick auf die anderen teile ich hingegen Hans Mayers Einschätzung.

Foto:
Marsch der revolutionären Arbeiter und Soldaten im November 1918 am Brandenburger Tor
© BPB

Info:
Alfred Döblins dreiteiliges Erzählwerk „November 1918“ liegt in vier Bänden bei S. Fischer als Taschenbuchausgaben vor. Die Vorgänge zwischen Reichskanzler Friedrich Ebert und Generalquartiermeister Wilhelm Groener sind im ersten Band des zweiten Teils enthalten, der den Titel „Das verratene Volk“ trägt.