Manegenplatz MoskauNach dem Intermezzo Trumps hat sich das Verhältnis der die Weltpolitik bestimmenden Staaten neu aufgelegt  Teil 3/3

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Ost-West-Gegensatz ist mit Bidens Amtsübernahme wieder verstärkt zurück. Joe Biden will nicht mehr wegsehen, wenn Russland seine eigenen Bürger angreife und gegen fundamentale Menschenrechte verstoße.


Ein alter Kulturgegensatz bleibt also Realität. Lawrow bestimmte erst kürzlich, dass Russland die orthodoxe Bastion gegen die westlich-liberale Gesellschaft bleibe und der Russo-Zentrismus Staatsdoktrin. Man glaubt es kaum, aber Russlands Herrscher scheinen nicht ganz von dieser Welt und aus der Zeit gefallen zu sein.

Auf die Frage des Gerichts, warum er die Meldepflicht nicht einhalten konnte, antwortete Alexej Nawalny knapp: Koma. Obwohl er dem Exitus nahe war, hätte Nawalny die Meldepflicht einhalten müssen. Erholung vom Anschlag war ihm auch nicht gegönnt. Nawalny ist damit um so mehr jetzt für den Kreml zu einem Problem geworden. Und für Putin speziell. Das Polizeiaufgebot um die Gerichtsstätte herum war kolossal. Am Abend lautete das Urteil für Nawalny: dreieinhalb Jahre Straflager. Pikant ist die Erhöhung auf die Stufe Straflager. Nawalny blieb lässig und betonte Teilnahmslosigkeit. Der bereits erfolgte Hausarrest wird angerechnet.

Das Urteil lautet im Kern: Er habe insofern Recht gebrochen, „weil er es in Deutschland, wo er wegen des Giftanschlags behandelt wurde, es versäumt habe, sich pünktlich bei der Polizei zu melden“.


Aufgeweckte junge Leute erinnern an 1968

Russland-Korrespondent Christian Semm befragt überwiegend junge Leute in der näheren Umgebung des Gerichts. Maria, Studentin: „Ich meine, das ist einfach lächerlich. Wie wird bloß Recht gesprochen in unserem Land“. Aus der unter Ausnahmebedingungen abgelaufenen Bewährungsstrafe wird heute echte Haft.

Kyrill: „Ich dachte er kommt frei, Wenn er freikommt, wird er Russland befreien“. – Nawalnys Anwälte beklagen, sie hätten ihn nicht professionell verteidigen können. Anwalt Wadim Kobsew: „Seit seiner Verhaftung hatten wir keine Möglichkeit unter vier Augen mit ihm zu sprechen“. Anwältin Olga Michailowa: „Wir werden das Urteil selbstverständlich anfechten. Wir werden in Berufung gehen“.

Schon am Morgen war das Gerichtsgebäude weiträumig abgesperrt. Am Nachmittag waren 300 Menschen verhaftet. Und Polizei und Sicherheitskräfte wenig tolerant. Demonstrantin Elena: „Dies ist ein politischer Prozess. Der Mensch wurde in Russland vergiftet. Aber das interessiert nicht. Er kommt zurück, aber man sperrt ihn ins Gefängnis, verklagt ihn“. – Der junge Artjom: „Das ist ein Prozess ohne Rechtsgrundlage“. Das Verhältnis Russlands zum Westen ist darüber gestört. Nachdem Russland ranghohe EU-Diplomaten aus dem Land verwiesen hatte, musste nun auch ein russischer Diplomat Deutschland verlassen. Diplomaten hatten sich erdreistet, den Prozessverlauf kritisch zu verfolgen.


An Moskaus Manegen-Platz hupen AutofahrerInnen

Christian Semm kommentiert aufgrund Befragung durch das ‚heute journal‘: Unfassbar viele Sicherheitskräfte. Es ist alles hermetisch abgeriegelt. Es sind nach dem Urteil nur kleinere Gruppen unterwegs, die dem Aufruf Nawalnys gefolgt sind. „Glaube nicht, dass das Urteil entscheidend war“. Viele erklären: Nein, wir gehen für unsere eigenen Probleme auf die Straße. Wegen der grassierenden Korruption, der Gesetzlosigkeit. Gegen die Machtelite. Christian Sievers vom ‚heute journal‘ kommt auf den Punkt: nun habe der Kreml Schwierigkeiten, die jungen Menschen über die alten Kanäle wie das Staatsfernsehen noch zu erreichen.

Seit 1992 wurden 42 Journalisten in Russland getötet. Dem Privatsender NTW wurde 1996 der Free-TV-Status abgenommen. Nach einer Kette von Unternehmen gehört NTW plus inzwischen Gasprom-Media, das im Mehrheitsbesitz des russischen Staates ist. Am Gerichtstag konnte Nawalny seinen eigenen Kanal nutzen und sagen: der Kremlchef werde in die Geschichte eingehen als, Zitat, „Wladimir, der Vergifter der Unterhosen“.

Christian Sievers: „Ist es das, was Putin nervös macht?“ – Antwort Chr. Semm: „Manchmal sagen Bilder mehr als tausend Worte“ und wenn man die Innenstadt sehe, könne man sagen, dass Putin nervös ist, dass die gesamte Staatsführung nervös ist. Die jungen DemonstrantInnen lassen sich nicht mehr als Kinder abtun, die ungezogen auf die Straße gehen. Im Hintergrund des Wortwechsels läuft das Hupkonzert verbunden mit dem legendären Moskauer Stau (Cr. Semm lenkt die Kamera hin zum Stau). So etwas gebe es immer mal wieder sporadisch, das sei als Solidaritätsbekundungen für die DemonstrantInnen zu verstehen.


Das Symbol ist gesetzt

Gefragt, ob es von Wladimir Putin taktisch klug sei, was er gerade tue?, erklärt die Russland-Expertin Sarah Pagung (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) u.a.: Die Opposition werde Nawalny weiterhin als Symbol nutzen, um zu mobilisieren, sowohl bei den anstehenden Parlamentswahlen als auch für die Proteste wie auch die Aufklärung über die Instrumentalisierung der Justiz und die Unterdrückung der Opposition. Nawalny habe etwas Erstaunliches geschafft: „Er hat trotz der weitgehenden Kontrollen der Medien es geschafft, Aufmerksamkeit zu bekommen, auch bedeutende Teile der russischen Bevölkerung zu mobilisieren und Putin und das System befürchten, dass nun das vor den anstehenden Wahlen wiederum passieren wird“.

Deutschland sei in dem Dilemma, dass es keine richtigen Hebel gebe, um auf die russische Innenpolitik Einfluss zu nehmen. Der Stopp von Northstream2 wäre sicher ein starkes Symbol, ein möglichweise überfälliges, es sei aber nicht zu erwarten, dass daraus bspw. die Freilassung von Nawalny erfolge. Es bleibe nur eine Symbolkraft, aber diese ändere wenig an der Verfasstheit des russischen Staates oder an der Nichteinhaltung der Menschenrechte. Fazit: die Demokratisierung Russlands hat etwas Illusorisches. In Russland trat laut Meldung vom 24.12.2020 ein Gesetz in Kraft, das Ex-Präsidenten vor Ermittlungen schützt ("Sicherheit für Putin"). Ähnlich wie jetzt im US-amerikanischen Senat erfolgt. In den Vereinigten Staaten besteht aber noch die Chance, dass ein zivilstrafrechtliches Verfahren gegen den vorherigen Präsidenten eingeleitet wird.

Foto:
© 
schulfahrt.de