Über Corona-Öffnungsstrategien
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier zur Video-Konferenz eingeladenen Spitzenvertreter der Wirtschaft offenbarten am letzten Dienstag erneut ihre beschränkte, weil extrem kurzsichtige Perspektive.
So bekräftigten sie wieder einmal ihren Wunsch nach einem Ausstiegsplan aus dem Lockdown. Und übersahen dabei das „Ding an sich“ (Kant), nämlich das Virus. Dieses hält sich nicht an betriebswirtschaftliche Strategien, nicht an Produktions- und Vertriebspläne. Es lässt sich auch nicht abmahnen wie ein unbotmäßiger Mitarbeiter. Tatsächlich gebärdet es sich wie ein internationaler Multi, der sich nicht um die bekannten Phrasen der längst nicht mehr freien Marktwirtschaft schert. Mit Hilfe aggressivster Bedarfsweckung umgarnt es die Verbraucher, will sie als Wirte gewinnen (ein Virus ohne Wirt ist ein Neutrum). Kontakte sind der Schlüssel zu seinem Erfolg; Dummheit und Fahrlässigkeit der Wirte die idealen Schmierstoffe.
Folglich erweist sich jede Öffnungsstrategie, auf die sich Politik und Wirtschaft einigen, als eine nach betriebswirtschaftlichen Kriterien erstellte Gewinn- und Verlustrechnung. Wirtschaft, die über geordnete Finanzierungs-, Produktions-, Vertriebs- und Versorgungskreisläufe hinausgeht, ist nicht mehr Volkswirtschaft, sondern ist den Eigeninteressen Mächtiger (z.B. Betriebsinhaber) unterworfen. Dadurch wird auch Politik, eigentlich die Sache des Gemeinwesens (der Polis), zum Mittel der Einflussgewinnung, der Machterlangung und der Machterhaltung. Sie schafft Hierarchien und intendiert Kampf, der um Bewahrung oder Veränderung latent oder offen geführt wird. Man stellt bei jedem Projekt Einsatz und Verlust gegenüber und geht von vornherein auch von Kollateralschäden (möglichst zu Lasten Unbeteiligter) aus. Allein die Verteilungskämpfe um die Corona-Impfstoffe belegen, dass gemeinwirtschaftliche Aspekte (z.B. die Gesundheit der Bevölkerung) nachrangig sind.
Ohne die Wirkung des aktuellen Lockdowns abzuwarten, wird die Wiedereröffnung des stationären Handels derzeit auf subtile Weise vorbereitet. Der Präsident des Handelsverbandes Deutschland, Josef Sanktjohanser, forderte auf der erwähnten Konferenz mehr Öffnungen: „Die Branche hat mit funktionierenden Hygienekonzepten gezeigt, dass Einkaufen kein Hotspot ist. Das belegen sowohl aktuelle Untersuchungen der Berufsgenossenschaften für Handel und Warenlogistik als auch der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin."
Was der Verbandsvertreter jedoch verschweigt, ist die Tatsache, dass das gar nicht untersucht wurde. Allenfalls konnte in ausgewählten Betriebsstätten geprüft werden, ob Abstandsgebot, Maskenpflicht und Händehygiene durch strukturelle Maßnahmen gewährleistet waren. Deutlich schwieriger war hingegen die Kontrolle der Be- und Entlüftung. Ein großer Teil der Geschäfte verfügt lediglich über eine Luftumwälzanlage in Verbindung mit einem Kühl- und Wärmeaggregat, was zu normalen Zeiten ausreicht. Für mit Covid-19 angereicherte Aerosole wirken solche Anlagen jedoch als Katalysator.
Möglicherweise könnte durch tägliche Testungen der Gesundheitsstatus der Geschäftsmitarbeiter ermittelt werden. Bei der Kundschaft wäre das hingegen deutlich schwieriger. Wer seine Wohnung noch gesund verlassen hat, kann sich auf dem Weg bereits infiziert haben und das Virus bereits übertragen, ohne dass dies bei einem Schnelltest auffiele. Deswegen ist das Mittel der Wahl nach wie vor die Kontaktbeschränkung. Dieses der Gesundheit geschuldete Verhalten spielt den Online-Händlern in die Hände. Vor allem solchen, auf man sich als Kunde eigentlich nicht einlassen sollte, weil sie ihre Mitarbeiter ausbeuten und Steuern vermeiden.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, warum selbst seit Jahren eingeführte Unternehmen den Online-Verkauf erst jetzt entdecken. So hängt vielen übereilten Lösungsversuchen der Hauch des Improvisierten an.
Der Sortimentsbuchhandel hat sich bereits im ersten Lockdown als kreativer erwiesen. Das könnte auch an der Ware und der Kundschaft liegen. Im Vergleich zum Buchhandel wirken die Internetangebote der großen Warenhäuser stümperhaft. Sie bieten zwar viele Warengruppen an, aber diese gehen nicht in die Segmentstiefe. Man ahnt, warum Kaufhof und Karstadt bereits lange vor Corona in massive Schwierigkeiten geraten waren. Trotz großer ihrer Verkaufsfläche war ihr Angebot oberflächlich und lockte immer weniger Interessierte an. Die Klage von Verbandschef Sanktjohanser ist darum im Wesentlichen durch unzureichende Selbstdiagnose der Verhältnisse und entsprechend falsche Therapievorschläge geprägt.
Ähnlich sieht es in der Gastronomie aus. Guido Zöllick, Präsident des Hotel- und Gaststättenverbandes, wies bei der Runde mit dem Minister darauf hin, dass auch die Not im Gastgewerbe riesig sei: „Ende Februar ist meine Branche nun schon den sechsten Monat insgesamt geschlossen, wenn wir den ersten Lockdown aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres mit dazuzählen. Also die Hälfte des gesamten Jahres ohne Umsätze und Geschäft." Die Verzweiflung wachse, so Zöllick; zwei Drittel aller Betriebe bangten um ihre Existenz. Und die zugesagten Hilfen kämen nur zögernd an.
Objektiv wird das vermutlich zutreffen. Andererseits ist die Struktur vieler Gaststätten seit jeher instabil. Die Ausstattung der Lokale gilt häufig als erneuerungsbedürftig – von der Küche über den Gastraum bis zu den Toiletten. Ein Großteil konnte auch bislang nur durch mäßig bis schlecht bezahlte Aushilfen überleben. Die Hygienekonzepte, die nach dem ersten Lockdown während des Sommers verbindlich waren, überforderten manchen Betreiber. Die Stadt Frankfurt verhängte im letzten Jahr Ordnungsgelder wegen Verstoßes gegen Corona-Auflagen im Gesamtwert von 900.000 Euro. Die Gastronomie hat daran einen hohen Anteil.
Doch neben den zahlreichen Schatten gibt es auch Lichtstreifen. Eine Reihe weitsichtiger Wirte hat sich durch professionell organisierte Lieferdienste einen Namen bei alter und neuer Kundschaft gemacht. Sie werden sicherlich zu den Gewinnern sowohl ihres Wirtschaftszweigs als auch der Pandemie zählen.
Insgesamt beklagten die Vertreter der Wirtschaft die schleppende Auszahlung der in Aussicht gestellten Hilfsgelder. Doch Minister Altmaier betonte, dass trotz vielem Unmut Einigkeit in der Reihenfolge der Maßnahmen bestehe, nämlich: "Dass wir für die nächste Ministerpräsidentenkonferenz eine gemeinsame Position mit Empfehlungen vom Standpunkt der Wirtschaft erarbeiten wollen, was die Öffnungsstrategie angeht."
Bemerkenswerterweise schien die Situation der Theater und der anderen Kultureinrichtungen keine Rolle gespielt zu haben. Es ging eben um die Wirtschaft.
Foto:
Menschenleeres Leipzig während des ersten Lockdowns im April 2020
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