Gedenkfeier in HanauHalit Yozgat, Walter Lübcke und die neun Opfer von Hanau mahnen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Übersehen wir nicht die bösen Geister in unserer Mitte – nicht den Hass, die Ausgrenzung, die Gleichgültigkeit.“

Mit diesen Worten warnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags in Hanau eindringlich davor, dieses Attentat sowie andere rechte Gewalttaten als Schicksalsschläge hinzunehmen. Am Abend des 19. Februar 2020 hatte der 43-jährige Tobias R. neun Menschen mit ausländischen Wurzeln an mehreren Plätzen der Stadt erschossen. Danach tötete er mutmaßlich seine Mutter und anschließend sich selbst.

Steinmeier hat beim Gedenken an die Opfer eine Aufklärung aller offenen Fragen gefordert. Zugleich rief er die Bürger zum Zusammenhalt gegen Hass, Rassismus und Hetze auf. "Aufklärung und Aufarbeitung stehen nicht in freiem Ermessen", betonte er eindringlich. "Sie sind Bringschuld des Staates gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Angehörigen   [...]   Nur in dem Maße, in dem diese Bringschuld abgetragen wird und Antworten auf offene Fragen gegeben werden, kann verlorenes Vertrauen wieder wachsen. Deshalb müssen wir uns so sehr darum bemühen. Der Staat ist gefordert."

Er wisse, so der Bundespräsident, dass es Kritik und Fragen an das staatliche Handeln gegeben habe und weiterhin gebe. Auch der Staat und die, die in ihm Verantwortung tragen, seien nicht unfehlbar. Wo es Fehler oder Fehleinschätzungen gegeben habe, müsse aufgeklärt werden. In seiner Rede wandte sich Steinmeier direkt an die Hinterbliebenen. Der Staat habe "sein Versprechen von Schutz und Sicherheit und Freiheit" gegenüber den Opfern nicht einhalten können, sagte er. Dies bedrücke ihn sehr.

Armin Kurtovic, Vater des ermordeten Hamza Kurtović, verlangte in seiner Ansprache stellvertretend für alle neun betroffenen Familien, "schonungslos vorzugehen" gegen alle, die ihre Amtspflichten verletzt haben. "Es reicht nicht aus zu sagen: Hanau darf sich nicht wiederholen." Denn „seit dem Anschlag steht die Welt für uns still", klagte er. Nichts sei mehr so, wie es einmal war. "Tagtäglich sind wir gezwungen, mit dem Verlust unserer eigenen Kinder zu leben." Ob "Fatih, der viel lachte, der dabei war, sich eine eigene Firma aufzubauen", oder "Mercedes, die ihren Kindern die beste Freundin war" - den neun Opfern blieben ihre Träume und Ziele für immer verwehrt.

Kurtović dankte dem Bundespräsidenten und Hanaus Oberbürgermeister für ihre Anteilnahme - gleichzeitig prangerte er aber auch Missstände an: "Tagtäglich fragen wir uns, ob die Tat nicht hätte verhindert werden können. Warum wurde uns ein würdevoller Abschied verwehrt?"

Immer wieder hätten die hessischen Behörden die Anfragen der Opferfamilien abgewehrt, kritisierte er. Es sei "sehr bitter" und schmerze, dass die Behörden erst durch die Strafanzeige der Familie gezwungen werden mussten, sich mit den ihnen bekannten Missständen zu beschäftigen. So hatten die Familien Strafanzeige gegen den Vater des Attentäters Tobias R. gestellt wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord. Dieser Vater bedränge beispielsweise die Teilnehmer der regelmäßigen Mahnwache in der Stadtmitte. Es sei zutiefst enttäuschend, dass die Bitte der Angehörigen nach Gesprächen immer wieder verweigert werde.

Auch andere Angehörige forderten eine lückenlose Aufklärung der Tat. Die Verantwortlichen, die Fehler vor und nach der Tat begangen hätten, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Dem Mörder von Hanau war eine Waffenbesitzkarte von der zuständigen Behörde nicht verweigert worden, obwohl Hinweise auf eine rechtsextreme und rassistische Gesinnung vorgelegen hätten. Bereits Monate vor dem Verbrechen hatte er Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht. Erst unlängst war bekannt geworden, dass der Polizeinotruf zur Zeit der Tat unterbesetzt war.

Neben anderen Politikern rief Finanzminister Olaf Scholz (SPD) dazu auf, rechtsextremistische und rassistische Tendenzen in Deutschland ernster zu nehmen. "Es gibt rechten Terror und strukturellen Rassismus in unserem Land. Und es gibt zu viele, die das nicht sehen wollen, die wegschauen, die abstreiten." Dass rechter Terror in Deutschland "Realität" sei, davon zeugten die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre: "Hanau, der Mord an Walter Lübcke, das antisemitische Attentat von Halle und unzählige Angriffe auf kommunalpolitisch Engagierte - jeden Tag", so Scholz. Er rief dazu auf, vor solchen Taten nicht die Augen zu verschließen und stärker aktiv zu werden: "Kein Wegschauen - kein Schönreden, sondern Gegenhalten!"

Tatsächlich gibt es keinen Grund, nach der Gedenkstunde in Hanau zur normalen Tagesordnung überzugehen. Demokraten müssen sich nicht nur von den bekannten faschistischen Umtrieben in Ostdeutschland herausgefordert fühlen. Auch hessische Politiker und engagierte Bürger stehen im Fadenkreuz von Rechten. Private Daten der Rechtsanwältin Seda Basay-Yıldız wurden von einem Frankfurter Polizeirevier illegal abgerufen; eine Aufklärung lässt bis heute auf sich warten. Am jährlichen Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, wurden 2019 vor der Polizeiwache im hessischen Schlüchtern die Landes- und die Bundesflaggen falsch herum gehisst. Das legt den Verdacht nahe, dass Beamte dieses Reviers den faschistischen „Reichsbürgern“ nahestehen. Erst vor wenigen Monaten machte Janine Wissler, Landtagsabgeordnete der Linken, öffentlich, dass sie anonyme Morddrohungen erhalte. Als das bekannt wurde, erklärten auch Politiker anderer Parteien (mit Ausnahme der AfD), dass sie anonym bedroht würden. Es ist höchste Zeit, dass der hessische Innenminister Peter Beuth in den ihm unterstellten Behörden durchgreift. Falls er sich dazu nicht imstande sieht, sollte er sein Amt an einen Geeigneteren übergeben.

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Gedenkfeier für die Opfer von Hanau im Congress-Park
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