INTERVIEW ZUM ANTISEMITISMUSBERICHTE 2020 in der Schweiz:
Yves Kugelmann
Basel (Weltexpresso) - Gemeindebunds-Präsident Ralph Lewin ordnet die Schweizer Antisemitismusberichte 2020 ein und nimmt Stellung zu Kritik an Methode und Qualität
tachles: Der Antisemitismusbericht erwähnt 47 reale Vorfälle, hinzu kommen rund 500 digitale Ereignisse. Die Konklusion sieht keine nennenswerte Zunahme von Antisemitismus in der Schweiz. Wie lautet Ihre Analyse?
Ralph Lewin: Wir hatten in den letzten fünf Jahren jeweils weniger als 50 Fälle. Erfreulich ist, dass auch letztes Jahr keine Tätlichkeiten zu verzeichnen waren. In der realen Welt sind die Zahlen stabil. Beunruhigend sind aber die zunehmenden Verschwörungstheorien, vor allem online.
Die CICAD rapportiert für die Romandie rund 100 Vorfälle mehr als der SIG für die Deutschschweiz. Liegt das an der Erhebungsmethode oder der Realität?
Einerseits liegt das sicherlich an der Nähe zu Frankreich mit seiner unglaublichen Anzahl von 600 000 Antisemitismus-Vorfällen 2019. Aber die Erfassungsmethoden sind auch nicht ganz identisch.
Weshalb wird in der Schweiz nicht ein nationaler Bericht mit einheitlicher Erfassungsmethode, mit einem Team, aus einer Feder und in Übereinstimmung erstellt?
Das ist historisch so gewachsen, aber die beiden Organisationen sind eben auch unterschiedlich ausgerichtet – der SIG als Dachverband kümmert sich ja um alle jüdischen Themen. Wir werden aber sicher versuchen, zumindest die Methode zu vereinheitlichen.
Man müsste doch die interessierte Schweizer Bevölkerung im Sinne einer einheitlichen, möglichst mit einer richtigen Methodik ganzheitlich informieren.
Ich gebe Ihnen ja recht, dass diese Unterschiedlichkeit eine Unschönheit ist und wir eine einheitliche Methodik erreichen sollten. Nur gibt es den «Röschtigraben» auch bei vielen anderen Dingen, und die Leute interessieren sich mehr für das, was in ihrer eigenen Umgebung geschieht.
Ihr eigener Bericht selbst erwähnt viele Mängel: «Unvollständigkeit», «nur ein Bruchteil der Fälle wird analysiert», «personelle Ressourcenbeschränkung», «grosse Dunkelziffer», «nur drei digitale Plattformen untersucht», und das Tessin wird gar nicht betrachtet. Wie aussagekräftig sind denn die vorgelegten Resultate?
Das Problem der Dunkelziffern ist schlicht nicht lösbar, da nur erfasst werden kann, was gemeldet wird. Andere Probleme kann man lösen, und die sollte man angehen. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Facetten des Antisemitismus in der Deutschschweiz abzudecken, aber das, was wir machen, braucht es – eine Stelle, wo man Vorfälle melden kann. Wir erfassen sie nach sehr klaren Kriterien, die wir auch offenlegen. Unser Bericht gibt, trotz Dunkelziffern, zumindest einen Hinweis auf Entwicklungen im Zeitablauf. Ausserdem dürfte die Erfassung bei den schwerwiegenderen Fällen recht vollständig sein.
Der Bericht trägt den Absender SIG und GRA, nennt aber keine Namen. Wer erhebt diesen Bericht und mit welcher Expertise?
Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des SIG, der im Online-Bereich noch Unterstützung erhält. Er beurteilt die Meldungen und teilt sie den verschiedenen Kategorien von Vorfällen zu.
Im Bericht für 2020 werden die sogenannten Corona-Rebellen als Trigger erwähnt. Ein paar Zeilen später steht, Antisemitismus sei in der Rebellen-Gruppe «kein mehrheitsfähiges Gedankengut». Trigger oder nicht?
Von den 500 Online-Vorfällen sind gegen 50 Prozent Verschwörungstheorien. Das hat stark zugenommen, und zwar als Folge der Corona-Situation. Andererseits konnten wir in den von uns beobachteten Chats auch feststellen, dass sehr oft den antisemitischen Verschwörungstheorien widersprochen wird. Das scheint mir wesentlich.
Welchen Anspruch stellt der SIG selbst alles in allem an den Bericht?
Jenen, den er derzeit einlösen kann: Es ist ein Bericht über die in der deutschen Schweiz beobachteten und gemeldeten Fälle von Antisemitismus in der realen Welt und online. Nicht mehr und nicht weniger, und wir kennen die Grenzen der Aussagekraft durchaus und betonen diese ja auch.
Wie beurteilen Sie aufgrund des Berichts den Antisemitismus in der Schweiz gegenüber dem Ausland?
Auch in anderen Ländern werden die Berichte so erstellt wie bei uns. Klar ist, dass wir in der realen Welt viel weniger Vorfälle haben als die anderen, auch wenn man die unterschiedliche Grösse der Länder berücksichtigt. Und ich glaube durchaus, dass dies eine reale Basis hat: Die Schweiz tickt anders, es braucht mehr, bis man bei uns Gewalt anwendet. Dafür gibt es gute Gründe: das gute soziale Netz, die Kleinräumigkeit, die Kantone mit vielen Kompetenzen, keine grossen Ghettos mit Zehntausenden schlecht untergebrachten Leuten und so weiter. Womit aber nicht gesagt ist, dass sich die Situation nicht wieder verschlechtern könnte.
Die von der Zürcher Fachhochschule im Sommer 2020 unter Schweizer Jüdinnen und Juden gemachte Umfrage zu Erfahrung von Antisemitismus kommt aufgrund von erlebtem und gefühltem Antisemitismus zu ganz anderen Resultaten. Woher kommt diese Diskrepanz?
Diese Studie zeigte ein subjektives Unsicherheitsgefühl bei einem relativ hohen Anteil der Befragten auf. Ich finde es gut, wenn die Betroffenen von Zeit zu Zeit befragt werden, aber die Frage ist, wie man zu einer repräsentativen Stichprobe kommt. Die Studie zeigt indessen einfach eine andere Facette der Angelegenheit auf als unser Bericht.
Wie stellen Sie sich dazu, dass offensichtlich ein grösserer Anteil der jüdischen Bevölkerung eine Zunahme an Antisemitismus zu spüren glaubt?
Wir müssen das ernst nehmen und auf den verschiedenen Erscheinungsebenen angehen.
Konkret?
Wir erwarten zum Beispiel, dass die sozialen Netzwerke zumindest versuchen, antisemitische Äusserungen unter Kontrolle zu kriegen, denn es ist ja auch die Verbreitung, die die Sache schlimmer macht. Wobei sich die eigentlichen News-Medien in den letzten Jahren sehr dafür eingesetzt haben – dort gab es letztes Jahr nur noch wenige Vorfälle, was sehr erfreulich ist.
Foto:
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 26.2. 2021
Das ausführliche Gespräch findet sich auf www.tachles.ch/podcasts