Verfassungsschutzamt darf nicht öffentlich machen, ob die AfD als Verdachtsfall eingestuft wird
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat anscheinend entschieden, die gesamte AfD als Verdachtsfall einzustufen.
Amtlich bekannt gegeben wurde das bislang jedoch nicht. Allerdings haben sich investigative Journalisten Zugang zu vertraulichen Papieren verschafft. Möglicherweise mit Hilfe von Whistleblowern in der Behörde. Folglich richtet sich der Beschluss des Kölner Verwaltungsgerichts gegen die Presse als „vierte Gewalt“. Denn dem BfV kann man formalrechtlich nicht untersagen, was es gar nicht getan hat. Und man kann der Behörde auch nicht zumuten, jeden Mitarbeiter vorsorglich in Quarantäne zu nehmen. Auch der Verfassungsschutz ist Teil einer Exekutive, die unter parlamentarischer Kontrolle steht. Seine Pflicht zur Verschwiegenheit kann sich nur auf operative Vorgänge beziehen, um Mitarbeiter und Informanten nicht zu gefährden. Die Auseinandersetzung mit einer politischen Partei, die seit ihrer Gründung die Verfassung diskreditiert und gegen Minderheiten hetzt, ist Teil des öffentlichen Diskurses. In der Vergangenheit hat sich das Amt zu häufig als über den demokratischen Institutionen stehend definiert, man denke nur an die Zeit unter dem unsäglichen Hans-Georg Maaßen. Im konkreten Fall aber hält es sich an die Regeln.
Rechtlich ist es zwar zulässig, eine Behördenentscheidung aufzuhalten, wenn in derselben Sache über einen bevorrechtigten Antrag noch nicht entschieden wurde. Aber dieser juristische Grundsatz ist auf diesen Fall nicht anwendbar, weil die Meinungsbildung in der Verfassungsschutzbehörde zwar abgeschlossen zu sein scheint, aber die sich daraus ergebenden Maßnahmen noch nicht offiziell angekündigt wurden.
Die Sorge der Antragstellerin AfD gilt darum in erster Linie ihrem Bild in den Medien. Die rechtsextreme Partei sieht ihre Chancengleichheit durch die Presse gefährdet, der sie ohnehin ständig vorwirft, Lügen zu verbreiten. Das Kölner Verwaltungsgericht hat sich in grob fahrlässiger Weise instrumentalisieren lassen und sich die Sichtweise von Verfassungsfeinden zu eigen gemacht.
Die vom Verwaltungsgericht erwähnte Chancengleichheit der politischen Parteien kann bei der AfD nicht greifen. Denn eine Gleichbehandlung würde bedeuten, dass dieser Gruppierung weiterhin gestattet würde, Demokraten zu verleumden und politische Parolen zu verbreiten, die sich von denen des NS-Staats kaum unterscheiden.
Vor mir liegt ein Pamphlet, dass der hinlänglich bekannte Horst Jürgen S. verfasste und mir vor wenigen Tagen in die WELTEXPRESSO-Redaktion sandte (nach meiner Zählung ist es das 38. seit August 2016). Erneut beklagt er sich, dass nach seiner Meinung hauptsächlich „gegen rechts“ Stimmung gemacht würde. Also „gegen die letzten Deutsch-Treuen wie die AfD, Pegida usw.“. Seine Wut macht er fest an den Morden von Hanau, zu denen ihm die Frage einfällt „Gab es Feiern wie am 19.2.21 auch schon mal für deutsche Opfer??!“ Im Klartext bedeutet das: Ein Deutscher, mutmaßlich vor allem aus den Kreisen von AfD, Pegida, Identitären, Querdenkern, Querfront oder Drittem Weg, darf nicht ermordet werden. Und falls sich einer, der nicht deutsch-treu ist, dazu hinreißen ließe, müsste den Opfern die Trauer des völkischen Volks sicher sein. Solche Überzeugungen gelten als rassistisch. Und ebenso Horst Jürgen S.‘ Standardmantra „R2G = Schlimmste Nationalverräter der deutschen Geschichte!“ Mit derselben Penetranz wiederholt er blau-braune Phrasen wie „NSU = Lügen wie Sebnitz“, „Mölln, Solingen = Lügen, Hanau = dubios, Lübcke = Ungereimtheiten!“ Auf solche Weise werden die politischen Morde von gestern entschuldigt und die von morgen ideologisch vorbereitet. Für die Verwaltungsrichter in Köln scheinen sie jedoch hinzunehmende Kollateralschäden zu sein. Hauptsache, dem Gesetz wird buchstabengetreu Genüge getan, völlig unabhängig davon, welchen Geistern man mit rein formalistischen Entscheidungen die Wege öffnet.
Der evangelische Theologe Heinrich Grüber, dem es bis 1941 gelungen war, jüdischen Bürgern die Auswanderung aus Nazi-Deutschland zu ermöglichen und dem dafür 1964 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem die Ehrung „Gerechter unter den Völkern“ verliehen wurde, äußerte unmittelbar nach dem Ende des NS-Gewaltregimes: „Wer die Ideologie des nationalsozialistischen Terrors und des millionenfachen Mords relativiert, rechtfertig oder neu begründet, dem darf in Deutschland nie mehr das Recht auf politische Betätigung eingeräumt werden.“ Dies war auch die Rechtsauffassung, die sich wenige Monate später in den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher durchsetzte und die in Artikel 139 des Grundgesetzes gemeint ist: »Die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.«
Eine solide Kenntnis der Rechtsgeschichte täte auch der heutigen Rechtspflege gut. Denn andernfalls laufen die Richter und Staatsanwälte Gefahr, zu „furchtbaren Juristen“ zu werden. Der Dramatiker und Schriftsteller Rolf Hochhuth hat diesen Begriff 1978 im Zusammenhang mit der Filbinger-Affäre geprägt. Der Rechtswissenschaftler Ingo Müller hat ihn wenig später als Titel seines Buches über die NS-Justiz übernommen.
Foto:
Szene aus den Nürnberger Prozessen. Verhandlungssaal im September 1946
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