Bildschirmfoto 2021 03 12 um 23.38.00Cnaan Lipschitz berichtet seit bald zehn Jahren als Europa-Korrespondent für die Jewish Telegraphy Agency und analysiert die Auswirkungen der Pandemie auf die jüdische Gemeinschaft Europas

Yves Kugelmann

Berlin (Weltexpresso) - tachles: Ein Jahr Pandemie in Europa – und sie ist noch nicht zu Ende. Was hat sich in diesem Jahr merklich verändert, wenn Sie auf die jüdische Gemeinschaft Europas blicken?
Cnaan Lipschitz: Die eine aktuelle Situation gibt es nicht, denn was im März 2020 in Westeuropa geschah, geschieht jetzt in Osteuropa. So etwa in Budapest, Heimat der mit 100 000 Seelen grössten zentraleuropäischen jüdischen Gemeinde. Ungarn ist jetzt Nummer 3 oder 4 punkto Todesfälle pro Million Einwohner, während im letzten März die Zahlen sehr tief waren. Die Osteuropäer erleben erst jetzt, was die Westeuropäer vor fast einem Jahr erlebten. Über alles gesehen aber wurden die jüdischen Gemeinschaften Westeuropas, speziell Frankreichs allein mit ungefähr 2000 und Grossbritannien mit etwa 1000 Toten, unglaublich hart getroffen. Das ist, gemessen am Total von 250 000, eine riesige Einwirkung, und praktisch alle kannten jemanden, der gestorben ist.


Weshalb diese hohen Todesfallzahlen?

Weil die Juden sich dem Virus stärker aussetzten als Nichtjuden. Dies unter anderem, weil sie eine höhere Geburtenrate und grös-sere Familien haben, was auf die Charedim noch stärker zutrifft. Und weil die sozialen und familiären Verbindungen stärker gelebt werden als bei Nichtjuden. Das hat speziell in Frankreich und Grossbritannien die Todesfall- und Infektionsraten angeheizt.


Hat sich daran mittlerweile etwas geändert?

Die Gemeinden haben gelernt, sich anzupassen. Ein Beispiel dafür ist Belgien, wo vorwiegend charedische Familien leben. Dort gab es sehr pessimistische Prognosen und dadurch änderten sie ihre Verhaltensmuster und konnten das Schlimmste vermeiden. Derzeit ist die Infektionsrate unter ihnen etwa gleich wie bei Nichtjuden. Die nötige Anpassung war für sie aber drastisch und schmerzhaft, besonders in Frankreich mit seiner grossen Gemeinschaft, wo es ein lebhaftes jüdisches Leben gegeben hatte. Das ist praktisch verschwunden – eine ebenso einschneidende Erfahrung wie die Todesfall- und Infektionszahlen.


Lassen sich die Situationen in Europa und den USA vergleichen?

Ich würde sagen, dass die jüdischen Gemeinden sich vergleichbar verhalten, aber die Dynamiken verglichen mit der nicht jüdischen Bevölkerung unterschiedlich sind. In den USA gab es weniger generelle Restriktionen, aber der grösste Teil der jüdischen Gemeinden ergriffen selbst strengere Massnahmen. In Europa hingegen gab es volle Lockdowns für alle, und in Ländern wie den Niederlanden und Schweden, die das Ganze entspannter angingen, lebten auch die Juden entspannter. In den USA verhielten sich die Juden also anders als der Rest der Bevölkerung. Hier war das weniger der Fall.


Was waren in den letzten Monaten in den europäischen Gemeinden die augenfälligsten Verbesserungen?

Letztes Jahr gingen die jüdischen Altersheime zwar früher als die anderen in die Isolation, nur genügte das leider nicht, um Fälle wie im Beth Shalom in Amsterdam zu vermeiden. Dort starben Dutzende Bewohner, weil sie noch Anlässe wie etwa am 9. März 2020 einen Schülerbesuch erlaubten. Seither werden beispielsweise Festtage nur als interne, geschlossene Anlässe gefeiert. In Osteuropa indessen war eines der Hauptprobleme, der vorwiegend älteren jüdischen Bevölkerung die Pandemie überhaupt zu erklären. Viele von ihnen hatten noch das Sowjetregime erlebt, und eine glaubwürdige Information braucht so etwas wie einen Koscherstempel. Das dauerte seine Zeit, aber jüdische Organisationen, vor allem deren Jugendliche, führten Schulungen durch: Wie funktioniert Zoom, wie trägt man eine Maske richtig, und so weiter. Wichtig dabei ist auch, dass vor allem die Unterstützung für den Gebrauch des Internets und der Videokonferenz-Möglichkeiten hilft, miteinander in Kontakt zu bleiben.


Gibt es diesbezüglich in Westeuropa etwas speziell Erwähnenswertes?

In Frankreich etwa stürzte die Pandemie viele jüdische Unternehmungen, Restaurants und Koscher-Geschäfte in den finanziellen Ruin. Der Fonds Social Juif Unifié startete deshalb ein Wohlfahrtsprogramm, mit dem man den Leuten durch Darlehen half, über die Runden zu kommen.


Wie verändert sich innerhalb der jüdischen Gemeinden – nach einem Jahr praktisch ohne Möglichkeit der Besuche von kulturellen, sozialen oder religiösen Veranstaltungen – die Zukunft?

Sicher ist das individuelle Engagement viel wichtiger geworden. Wenn man den Mitgliedern früher einen guten Ort und gute Veranstaltungen bieten konnte, war man als Gemeinde erfolgreich. Wenn das wegfällt, wird das Charisma der Verantwortlichen zum springenden Punkt, wie gut sie präsentieren und vernetzen können. Und es geht nichts ohne Anstrengung. Wie konsequent also strengen sie sich an, wie konsequent sind sie für dich erreichbar? Der Rabbiner der Mailänder orthodoxen Gemeinde zum Beispiel ist nicht ein speziell auffälliger Typ. Aber er ist immer vorhanden, er liefert immer eine gute Predigt, die mit dem aktuellen Leben der Mitglieder zu tun hat. Oder andere wie die Rabbinerin Delphine Horvilleur in Paris, die mit ihrer TV-Erfahrung für diese Aufgabe geradezu geboren zu sein scheint. Wichtig ist auch, dass man den Leuten so gute Online-Chagim bieten kann, dass sie die Feiertage problemlos zu Hause begehen können.


Die Fähigkeit, eine Gemeinde virtuell zu führen, wird also wesentlich?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Erst im Sommer, also während der Pandemie, gründeten etwa 15 vorwiegend junge Leute in Prag erstmals ein Jüdisches Gemeindezentrum auf rein virtueller Basis, und sie sind damit sehr erfolgreich. Sie liefern Inhalte wie coole Spiele für die Kinder, eine modern gestaltete, humorvoll gezeichnete animierte Haggada und vieles mehr. Wer imstande ist, das zu tun, hat jetzt die Chance, Erfolg zu haben, wer es nicht kann, ist in Schwierigkeiten.


Sehen Sie auch eine Veränderung Richtung Akzeptanz von virtuellen Gottesdiensten und anderen religiösen Anlässen?

Es gibt unterdessen bestimmt mehr Interesse daran. Ich meine, dass es darauf ankommen wird, ob die Atmosphäre eines besuchten Gottesdienstes durch einen virtuellen ersetzt, ob sie so geschaffen werden kann. Persönlich glaube ich nicht daran, denn man hat im jüdischen Leben schon immer eine Trennung zwischen Inhalt und Ritual gesehen. Der Inhalt kommt vom Lernen, aber er hat keine Kontur. Inhalt und Ritual leben parallel nebeneinander, aber sie bedienen total unterschiedliche Bedürfnisse. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich daran etwas ändern wird, ich glaube nicht, dass ein virtueller Gottesdienst den reellen ersetzen kann.


Gibt es unter den europäischen Rabbinern irgendwelche Vorstösse auf halachischer Ebene, um die Dinge in Ausnahmesituationen einfacher zu machen?

Es gab in konservativen Kreisen viele solcher Diskussionen schon vor der Pandemie. Aber man zögerte in diesen Gemeinden, wenn auch einige von ihnen bereits Zooms anboten. Nun geht man wohl davon aus, dass dies ein vorübergehender Zustand sei, den man einfach hinter sich bringen müsse.


Haben Sie nach einem Pandemiejahr einen Überblick über die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen für die Juden in Europa?

Das müssten wir nach Sektoren anschauen. Tourismus, koschere Restaurants, interne Bildung usw. wurden schwer getroffen, und das ist in den meisten Ländern ein erheblicher Anteil am jüdischen Geschäft. Da sind Hunderte oder mehr betroffen.


Wo treffen die mit der Pandemie verbundenen antijüdischen Verschwörungstheorien die Juden am meisten?

Bislang vermehrt in Westeuropa. Aber vermutlich wird das auch in den Osten überschwappen. In Deutschland gab es ein interessantes Phänomen: Das Coronavirus vereinte die ex-treme Rechte mit der extremen Linken im Antisemitismus. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte machen sie gemeinsame Sache, was eine Menge Alarmglocken aufläuten lässt. Im restlichen Europa funktionierte das nicht so, vermutlich deshalb, weil die extreme Rechte und Linke in Deutschland so stark, aber in anderen Ländern viel weniger präsent sind.


Hat Corona noch andere antisemitische Risiken mit sich gebracht?

Ich sehe die wesentlichste Bedrohung darin, dass die zuvor vorhandene Unterteilung quasi in Zellen der antisemitischen Kreise durch eine alle betreffende Sache überbrückt werden kann. Wenn eine solche Überbrückung alle vereint, dann wird es furchterregend.


Wie wird sich Corona demografisch auswirken? Wir werden vielleicht mehr Geburten haben, aber wir haben auch praktisch keine Möglichkeiten für Schidduchim ...

Es ist noch zu früh, wirklich etwas dazu zu sagen. Aber spontan würde ich davon ausgehen, dass infolge des Stopps der reellen Begegnungsmöglichkeiten die virtuellen Dating-Angebote für viele Singles die einzige Chance sind, eine romantische Beziehung einzugehen. Seiten wie J-Dates und ihre Mitbewerber mögen im Übrigen auch die Nachteile eines persönlichen Treffens einschränken, weil sie Präferenzen berücksichtigen können. Aber konkrete Informationen dazu habe ich nicht, auch wenn die Frage natürlich interessant ist.


Viele erwarten, dass die Pandemie in einem Jahr überstanden sein wird. Was denken Sie: Sehen wir in fünf oder zehn Jahren noch Auswirkungen im jüdischen Leben?

Die Frage ist, ob Corona auch in Zukunft ein Teil unseres Lebens sein wird, was ich nicht hoffe. Aber ich glaube, dass die jüdischen Gemeinden künftig einen Effort machen werden, um finanziell nicht mehr lediglich von einer Quelle abhängig zu sein, so wie etwa Saudi-Arabien vom Öl, sondern ihr Portfolio zu diversifizieren. Denn viele Gemeinden haben ihre Haupteinnahmequelle im Tourismus und in den Museen. Haben sie einmal realisiert, dass dies keine sicheren Aussichten bietet, werden sie wohl darum bemüht sein, die Palette zu verbreitern. Ferner denke ich, dass zwar unmittelbar nach dem Ende von Corona ein Run auf die Gemeinden stattfinden wird, um dies zu feiern. Aber danach gibt es wohl Veranstaltungen, die für eine persönliche Präsenz nicht mehr so attraktiv sind. Beispielsweise Vorträge, die man genauso in einer gut gestalteten Powerpoint-Präsentation virtuell abhalten kann. So kann man die Anlässe in der Gemeinde auf jene beschränken, die am meisten Wirkung haben. Das dürfte in der Post-Covid-Welt eine Notwendigkeit werden, rein aufgrund der Zeit, die es brauchen wird, bis sowohl Wirtschaft wie jüdische Institutionen sich finanziell erholt haben werden.


Etliche der durch Corona Verstorbenen waren Holocaust-Überlebende. Haben Sie feststellen können, dass man versucht hat, sie speziell zu schützen?

Was ich festgestellt habe – und das mag jetzt einfach pragmatisch begründet sein – war, dass man versucht hat, Zeitzeugenaussagen schneller einzuholen. Das war im U.S. Holocaust Museum zu sehen, aber auch in Grossbritannien, wo eine Organisation einen Covid-sicheren Bus für die Aufnahmen bereitstellte. Ebenso diskutiert man derzeit, mobile Schulzimmer zu schaffen, die medizinisch sicher unterteilt sind. Diese würden dann mit den Schulkindern zu den Stätten gefahren, die für die Holocaust-Überlebenden relevant sind, und die Kinder sehen diese und hören die Geschichten dazu. Das macht eigentlich viel Sinn und würde ohne Corona nicht geschehen.


Israel hatte gute und schlechte Zeiten während der Pandemie, derzeit ist das Land Impf-Champion. Hat dies Auswirkungen auf den Willen zur Alija bei europäischen Juden?

Historisch haben Phasen der Bewunderung für und des Stolzes auf Israel stets Einwanderungswellen nach sich gezogen. Wir sahen das schon nach 1967, als es einen riesigen Einwanderungsboom aus dem Westen gab – den einzigen so grossen vor der französischen Welle. So glaube ich schon, dass die aktuelle Bewunderung für diesen Erfolg des Landes eine Alija-Welle auslösen wird, auch wenn dies nicht offen diskutiert wird, soweit ich es beurteilen kann. Ich sehe jedenfalls eine gute Chance dafür.


Foto:
Cnaan Lipschitz vor dem Amsterdamer Parlament am Damm Platz
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