Die Grünen im Kulturkampf
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – An Annalena Baerbocks Programm sollten sich eigentlich die Geister scheiden.
Die, welche für unreguliertes wirtschaftliches Wachstum zu Lasten von Klima, Umwelt und Gerechtigkeit plädieren und ihren Egoismus geschickt verschleiern. Und jene, die für die Überwindung eines Systems kämpfen, das die unterschiedlichsten Formen von Profit und Unterdrückung als den Motor gesellschaftlicher Entwicklung versteht. Das Problem ist jedoch, dass Frau Baerbock selbst gar keine entschiedene Position einnimmt, auf welche man reflektierend und argumentativ eingehen könnte.
Das Parteiprogramm der Grünen, zu dem sie Wesentliches beigesteuert hat und das sich in ihrem Buch erkennbar niederschlägt, läuft sogar auf eine Zähmung des Kapitalismus und die Verherrlichung diverser Spießbürgeridyllen hinaus. Diese Ansammlung unpräziser Darstellungen ist sicherlich nicht das Ergebnis politischer Analysen gewesen, sondern allem Anschein nach die Summe von eklektisch zusammengetragenen Halbinformationen. Der umworbene Wähler möchte deshalb wissen, auf welche Quellen und Meinungen sich die Autorin bezieht. Hat sie vorfindbare Ansätze in kreativer Weise weiterentwickelt oder kolportiert sie lediglich Meinungen, die in ihr Weltbild passen? Hat sie an einigen Stellen sogar das Urheberrecht verletzt?
Bemerkenswert ist ihre Ausrede, sie habe weder ein wissenschaftliches Werk noch ein Sachbuch geschrieben. Und auch hier hakt der kritische Wähler nach und fragt, warum sie ihre Veröffentlichung nicht als Sachbuch versteht. Denn es ist weder ein Roman noch ein Gedichtband, auch kein Märchen und kein Jugendbuch, ebenso kein Fantasy-Band und kein Krimi. Es ist schlicht und einfach ein Sachbuch.
Allenfalls könnte es ein Sudelbuch im Sinn von Georg Christoph Lichtenberg sein: „Die Kaufleute haben ihr Wastebook (Sudelbuch, Klitterbuch glaube ich im Deutschen), darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein, was sie verkaufen und kaufen, alles durcheinander ohne Ordnung.“ Was aber auch wieder für Sachbuchelemente spricht. Bei Kurt Tucholsky wandelte sich das Sudelbuch zum biografisch-literarisch-politischen Notizbuch. Bewusst hat er die Eigenschaften liederlich, stümperhaft, schlampig und schludrig in distanzierender Weise übernommen.
Robert Habeck, der Co-Vorsitzende der Grünen, der nicht Kanzlerkandidat werden konnte, weil er ein Mann und mutmaßlich auch, weil er ein Intellektueller ist, sollte seine Parteifreundin Annalena mal beiseitenehmen. Sollte mit ihr ein intensives Proseminar in Literatur- und Buchwissenschaft durchziehen. Und sich im Anschluss an die Öffentlichkeit wenden, um Fehler als Fehler zu bezeichnen und Dummheiten als Dummheiten. Schließlich ist er ein erfolgreicher Schriftsteller und kann zudem eine Dissertation vorweisen, die in jedem Satz den formalen Regeln für wissenschaftliches Arbeiten folgt. Nach Möglichkeit sollte er sogar seine gesamte Partei mit den Feinheiten des Urheberrechts vertraut machen. Denn es ist kaum vorstellbar, dass er die Äußerung des Bundesgeschäftsführers der Grünen, die Debatte um Baerbocks Buch sei Rufmord, billigt. Und es würde nicht zu ihm passen, wenn er diese kontroverse Diskussion für einen rechten Propagandakrieg hielte, so wie das der grüne Europaabgeordnete Bütikofer tat. Es ist auch schlecht vorstellbar, dass er Katrin Göring-Eckardts Attribut „Schmutz“ unwidersprochen hinnähme. Er könnte das alles tun, ohne dabei an Glaubwürdigkeit zu verlieren, im Gegenteil. Das wäre der Rettungsanker, an den sich die Partei klammern könnte.
Tatsächlich wäre es höchste Zeit, einen Glaubenskrieg zu beenden, der um das geführt wird, an das man glaubt, ohne zu wissen, warum man es glaubt. Die Auflistung der Texte, die aus fremden Quellen stammen und zumindest dem Anschein nach auch eine Verletzung geistigen Eigentums sind, wird täglich länger. Selbst Veröffentlichungen von Joschka Fischer oder Jürgen Trittin wurden gefleddert. Auch die „taz“, im Zweifel immer für die Grünen, scheint die Geduld zu verlieren. Sie nennt den Vorgang „Buch-Desaster“ und titelte: „Es ist vorbei, Baerbock!“.
Das grüne Schweigen zu diesem sich selbst erzeugenden Skandal wird immer unüberhörbarer. Anscheinend ist der Parteiführung auch nicht klar, dass unter den 50.000 Beschäftigten in der Buch- und Verlagsbranche überproportional viele grüne Sympathisanten und Wähler sind, die vielfach als Multiplikatoren gelten dürften. Die Verwertungsgesellschaft Wort, die pauschal die Urheberrechte von Internetveröffentlichungen wahrnimmt, beteiligt ca. 300.000 Autoren an den jährlichen Ausschüttungen. Jeder von ihnen wird die nassforsche Abkanzelung durch Annalena Baerbock nicht gutheißen. Denn für nicht wenige bedeuten diese Einkünfte einen Teil ihrer wirtschaftlichen Existenz.
Nicht nur in der Welt der Autoren, Verlage und Buchhandlungen wird man neugierig darauf sein, ob der von den Grünen eingeschaltete Medienfachanwalt Schertz immer noch bei seiner Einschätzung bleibt: „Ich kann nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen. [...] Der Vorwurf entbehrt jeglicher Grundlage. [...] Es ist offenbar erneut der Versuch einer Kampagne zum Nachteil von Frau Baerbock.“
Der aufgeklärte Wechselwähler hingegen könnte einstweilen den Schluss ziehen, dass die Wege der Grünen immer in hessischen oder frankfurtischen Verhältnissen enden. Konkret bei der Befürwortung von Lärm und Abgasen des Luftverkehrs, beim Schutz von Immobilienspekulanten zu Lasten der Wohnrechte von Normalverdienern und einer Radfahrermentalität, die nach oben buckelt und nach unten tritt.
Foto:
Annalena ihr Sudelbuch. Grafikcollage
© MRG