sachsenhauseberlin.deZum Prozess gegen einen 100jährigen KZ-Wachmann

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - „Spät kommt Ihr - doch Ihr kommt. Der weite Weg entschuldigt Euer Säumen.“  Mit diesen Worten begrüßt Wallenstein in Schillers „Piccolomini“ den verbündeten Heerführer Isolani, als dem Feldmarschall wieder einmal  das Wasser bis zum Halse steht. Ähnliches möchte man der deutschen Justiz zurufen, die 76 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft wieder einmal einem ehemaligen SS-Angehörigen wegen dessen Tätigkeit als Wachmann in einem deutschen Konzentrationslager den Prozess macht, nur mit dem Unterschied, dass es nichts gibt, das ihre  Säumigkeit im Umgang mit der personellen  Hinterlassenschaft des Naziregimes zu entschuldigen vermöchte.

100 Jahre alt ist der ehemalige Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen, der sich ab Anfang Oktober vor dem  Landgericht Neuruppin, der Geburtsstadt Theodor Fontanes, verantworten soll. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft leistete er  Beihilfe zum Mord an 5232 Menschen. Insgesamt wurden etwa 200 000 Häftlinge nach Sachsenhausen deportiert, von denen nur 140 000 registriert worden seien.  Etwa 13.000 bis 18.000 sowjetische Kriegsgefangene wurden in einer eigens dafür eingerichteten Genickschussanlage ermordet.

Dass Mitverantwortliche für diese Verbrechen so lange ungeschoren blieben, geht auf das Konto der höchstrichterlichen Rechtsprechung,  die für einen Schulspruch den Nachweis der unmittelbaren Täterschaft verlangte. Damit blieben die so genannten Schreibtischtäter, darunter sämtliche  NS-Richter und Staatsanwälte,  straffrei. Keiner von ihnen hat mit eigener Hand gemordet. Das machten andere.

Im Prozess gegen Mitschuldige an der fabrikmäßigen Ermordung von einer Million Menschen in Auschwitz hat der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer versucht, die Schutzmauer um die intellektuellen Urheber einzureißen. In seinem Auftrag beantragten die Vertreter der Anklage, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine „natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 des StGB gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall, als psychische Beihilfe der Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziert“.

Diese Rechtsauffassung wurde vom Gericht und später auch vom Bundesgerichtshof verworfen; er bestand auf dem Nachweise der persönlichen Täterschaft.  Das führte dazu, dass hunderte von Verfahren wegen NS-Verbrechen eingestellt wurden. Erst 47 Jahre später kam eine neue Richtergeneration zu der Erkenntnis, dass der gedankliche Ansatz Fritz Bauers richtig war. 2011 wurde der ukrainische KZ-Wachmann Demjanjuk wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor vom Landgericht München II  ohne konkreten Tatnachweis wegen Beihilfe zum Mord in 27.000 Fällen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

In der Folgezeit kam es zu einer Reihe ähnlicher Verfahren gegen untergeordnete Chargen, wie den „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, oder die KZ-Sekretärin im Lager Stutthof, Irmgard F.  Nun also  soll sich ein Angehöriger der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Sachsenhausen im Alter von 100 Jahren  vor dem Landgericht in Neuruppin verantworten. Wem wird damit Genüge getan?  Der Gerechtigkeit? Den Hinterbliebenen der sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Sachsenhausen entweder in der Genickschussanlage ermordet wurden oder elend verhungern mussten?  Mich macht diese Art der späten Sühne nicht froh. Sie beweist, dass viele Nazi- Mörder hätten bestraft werden können, wenn man es denn gewollt hätte.

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