Parolen von ImpfgegnernVon den Grenzen der Toleranz

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Vorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, spricht sich gegen „Privilegien“ für Geimpfte aus.

Und sie begründet das mit der Pflicht zum solidarischen Zusammenstehen in der Gesellschaft und mit der Notwendigkeit, aufeinander Rücksicht nehmen zu müssen. Möglicherweise artikuliert sie damit eine Stimmung, die in Ostdeutschland häufig anzutreffen ist und bislang vor allem bei der AfD auf Resonanz stößt. Also bei jenen, die für Entsolidarisierung, Rücksichtslosigkeit, Verbreitung plattester Dummheit (besonders subtil in asozialen Medien wie Facebook & Co.), das Infragestellen von Grundrechten und generell für Inhumanität stehen.

Aber auch in SPD und bei Grünen findet man solches Kleinreden politischer Demagogie. Die FDP ist von solchem Egoismus geradezu berauscht.

Impfgegner informieren sich nachweislich schlecht und dies vor allem auf obskuren Internetseiten, wo politische Brandstifter ihre Ideologien propagieren und Verblendete den angelesenen Schwachsinn ohne Murren schlucken. Da das Fußvolk der neuen Bewegung intellektuell längst abgerüstet hat und sich zwischen anerzogener und freiwillig angeeigneter Dummheit bewegt, ist es für rationale Argumente nicht mehr zugänglich.
So wird die einfache und unwiderlegbare wissenschaftliche Erkenntnis nicht für wahr gehalten: Covid-19 benötigt zu seiner Entfaltung den Menschen als Wirt. Dieser infiziert andere und gibt dem Virus die Möglichkeit, immer neue und zumeist gefährlichere Varianten hervorzubringen, Alpha, Delta, Lambda usw. Die Impfung sorgt dafür, dass die Menschen zumindest gegen schwere und schwerste Verläufe immun werden. Und dass sie das Virus allenfalls noch in sehr abgeschwächter Form weitergeben. Nichtgeimpfte Erwachsene hingegen sind nicht geschützt, bieten den biologischen Nährboden für Mutationen und verbreiten auf diese Weise das Virus.

In seltenen Fällen übersteigen die unerwünschten Nebenwirkungen einer Impfung die Gefahren einer Ansteckung. Aber das sind sehr, sehr seltene Ausnahmen. Wer hierzu Anlagen in sich trägt, kann sich typologisieren lassen und wird nicht geimpft. Das Verfahren ist von anderen Schutzimpfungen, etwa gegen Masern oder Pocken, bekannt. Selbst bei einer Impfflicht würde es entsprechende Ausnahmen geben.

Angesichts einer Virusepedemie können die wünschenswerten gesellschaftlichen Verhaltensmuster sehr exakt definiert werden. Menschen sollten sich solidarisieren, indem sie sich impfen lassen. Und es sollten so viele sein, dass die sogenannte Herdenimmunität erreicht wird, also 85 bis 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Dadurch halten sie das Risiko für Ansteckungen und lebensgefährliche Verläufe extrem niedrig. Verkürzt gesagt: Geimpfte schützen sich gegenseitig.

Wer diesen Akt von Solidarität geleistet und eine gefährliche Krankheit erfolgreich mit bekämpft hat, darf darauf vertrauen, dass für ihn nicht mehr sämtliche Einschränkungen gelten, beispielsweise Restaurant- oder Theaterbesuche möglich werden, gegebenenfalls jedoch weiterhin mit Maske und unter Einhaltung von Abstand. Das hat nichts mit der Zuerkennung von Sonderrechten zu tun, wie Frau Hennig-Wellsow meint. Vielmehr handelt es sich um Gesten einer solidarisch handelnden Gesellschaft gegenüber allen, die in schweren und schwierigsten Zeiten füreinander eingestanden sind. Und die auch weiterhin das Gemeinwohl tatkräftig und vereint stützen werden.

Bleibt die Frage zu beantworten, was mit den anderen, den Unsolidarischen, geschehen soll. Sie haben aus fadenscheinigen Gründen das Miteinander nicht praktizieren wollen. Sollen sie ebenfalls in den Genuss fallender Restriktionen kommen, obwohl sie Träger und Verbreiter eines Virus sein können und sie Leben und Gesundheit der anderen bislang nicht interessiert hat?

Ich bin der Überzeugung, dass dieses Verhalten nicht belohnt werden soll. Aber jedem sollte auch die Chance zur Umkehr eingeräumt werden. Wer sich jetzt doppelt impfen lässt, kann nach der Wartezeit wieder teilhaben am gesellschaftlichen Leben. Wobei ich Maske und Abstandsgebot immer dann für selbstverständlich halte, wenn viele Menschen einander begegnen.

Das „Ohne mich“ von AfD, Querdenkern und ähnlichen gewissenlosen Selbstsüchtigen darf keine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise sein. Die an sich begrüßenswerte Toleranz gegenüber Andersdenkenden (wenn es denn tatsächlich Denkende mit moralischen Grundsätzen sind, ohne jeglichen Tropfen von Moralin) darf nicht in Beliebigkeit umschlagen. Denn diese ist wahllos und willkürlich, bedeutet Leben zu Lasten anderer. Sie ist das Gegenteil von ethisch begründbarem Tun und Lassen.

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Parole von Impfgegnern
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