br.detalibanEin Wissenschaftler erklärt die Erfolge der neuen Herrscher in Kabul

Constanze Weinberg

Hamburg (Weltexpresso) - Wie sieht es in den Köpfen der bärtigen Männer aus, die seit Tagen die Fernsehbilder aus Kabul  beherrschen, eine Hand immer am Abzug der Maschinenpistole?  Entspricht ihr Weltbild dem schlechten Ruf, der ihnen vorauseilt und insbesondere Frauen in Angst und Schrecken versetzt?  Sind es die Söhne armer ungebildeter Bauern, oder steckt unter den dunklen Turbanen auch mancher gebildete Kopf von Kindern reicher  Eltern?

Wir wissen es nicht und sind deshalb auf das Urteil von Menschen angewiesen, die sich halbwegs auskennen, so wie etwa der Direktor des internationalen Konversionszentrums in Bonn, Conrad Schetter, der seit 30 Jahren zu Afghanistan forscht. Drei Charakteristika erklären nach seinen Worten den Erfolg der Taliban als Bewegung:

tagesschau.dewErstens spielten die Taliban die religiöse Karte, schreibt der Wissenschaftler in der Süddeutschen Zeitung vom 20. August unter der Überschrift „Jetzt sind sie da“. Der Islam stelle den gültigen Kosmos dar, über den nahezu alle lebenswichtigen Entscheidungen in Afghanistan legitimiert würden. Weil vieles mündlich geregelt werde, lasse dieser Kosmos flexible Interpretationen zu, die vom geschriebenen Islam abweichen. Das Kalifat, das die Taliban jetzt ausgerufen hätten, sei in erster Linie eine symbolische Abgrenzung zur bisherigen islamischen Republik und müsse noch mit Leben gefüllt werden.

Zweitens bestimmt nach Schetters Darlegung der Glaube an die männliche Autonomie – als sinnstiftendes Moment der paschtunischen Stammeskultur – das Weltbild der Taliban. Die Paschtunen  machen etwa 42 Prozent der afghanischen Landbevölkerung aus. Ein Talib zu sein, solle vor allem Ausdruck von Stärke und Kompromisslosigkeit sein. Der einzelne Mann müsse stets in der Lage sein, seine Gemeinschaft – das heiße vor allem: die ihm anvertrauten Frauen – zu schützen. Die Gleichstellung von Mann und Frau, Demokratie und die Trennung von Religion und Staat bedeuteten für einen Talibankämpfer daher einen nicht hinnehmbaren Kontrollverlust. Die Soldaten des Westens personifizierten  als Ungläubige diese Bedrohung. Mit der Konzentration auf die lokale Gemeinschaft und allenfalls noch auf Kabul grenzten sie sich gleichzeitig von der Terrororganisation  al-Quaida ab.

Drittens spiele soziale Gerechtigkeit im Denken der Taliban eine zentrale Rolle. Sie hätten es verstanden, hebt der Direktor des Bonner Konversionszentrums hervor, sich als Vertreter der sozial Benachteiligten und Entrechteten auszugeben, die sich angeblich niemals bereicherten. Auch wenn man diesem Selbstbild skeptisch gegenüberstehen müsse,  würden die Taliban als soziale Bewegung der „kleinen Leute“ wahrgenommen. Sie würden nicht von religiösen Gelehrten angeführt, sondern von Dorfmullas, die kaum des Lesens mächtig seien. Diese Bedeutung der Taliban als Vertrreter der sozial Schwachen habe der Westen immer wieder übersehen. Dabei bedienten sich die Taliban unterschiedlich gelagerter gesellschaftlicher Konflikte  Bei verschiedenen Gruppen gebe es eine tief sitzende Angst vor den Taliban.

Aus all dem zieht der Wissenschaftler den Schluss, dass die Gleichberechtigung der Frauen  und eine offene Gesellschaft mit den Taliban nicht zu machen seien. Die internationale Gemeinschaft werde aber lernen müssen, mit den Taliban umzugehen. Es helfe nicht, sie als Steinzeit-Fundamentalisten abzutun. Besser sei es, zu verstehen, was ihre Ideologie und ihre Erfolge bei Teilen des Volkes ausmache. Sie seien da und würden nicht von allein wieder gehen.

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