Anne Will 5.9.21ANNE WILL und die Leidenschaft für Vorurteile

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Steht Deutschland vor einer Richtungswahl?

Anne Wills Polit-Talk am 5. September machte diese Frage an Schlagworten wie Mindestlohn, Reichensteuer und Schuldenbremse fest. Dabei bestätigte die Sendung erneut einen Trend, der auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk leider seit längerem zu beobachten ist. Es geht entgegen journalistischen Grundsätzen nicht mehr darum, nach Gründen für gesellschaftliche Probleme zu suchen, sondern Fragen zu stellen, die bereits die Antworten enthalten.

Derartige Steilvorlagen werden von Vertretern der Parteien gern aufgegriffen. Dabei verhielten sich Ralph Brinkhaus, der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und Norbert Walter-Borjans, Co-Vorsitzender der SPD, noch vergleichsweise unaufgeregt und skizzierten die Vorstellungen ihrer Parteien. Zumindest jene Positionen, zu denen man sich gern öffentlich bekennt. Während ihre Haltungen zu anderen, aber ebenfalls entscheidenden, Punkten nicht ausreichend konkretisiert wurden. Das betraf künftige Koalitionen, vor allem eine mit Beteiligung der LINKEN. Hingegen rangierten die Inhalte eines wie immer sich zusammensetzenden Regierungsbündnisses eher unter „ferner liefen“.

Die Klimaveränderung samt ihrer Ursachen und den notwendigen Konsequenzen kam nur am Rande zur Sprache. Insbesondere die CDU setzt auf wirtschaftliches Wachstum. Dadurch würden sich für den Staat automatisch höhere Steuereinnahmen ergeben, mit denen man die Kosten der Corona-Pandemie und der Klimakrise finanzieren könnte. Steuererhöhungen seien nicht notwendig, schon gar nicht für besonders Wohlhabende und profitable Großunternehmen.

Die Moderatorin hätte bei diesen Aussagen nachhaken müssen. Denn sowohl Corona als auch die Folgen der Erderwärmung zeigen überdeutlich, dass die Grenzen des Wachstums längst überschritten sind. Vor exakt 49 Jahren hatte der „Club of Rome“ darauf bereits hingewiesen. Damals wie heute werden jedoch die angeblichen Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft beschworen, die sich längst als Irrweg erweisen. Norbert Walter-Borjans bekräftigte dennoch, dass die SPD eine Partei sei, welche auf dem Boden der Marktwirtschaft stünde.
Er bezweifelte aber, dass es ohne Steuererhöhungen gelingen könnte, den Schuldenberg des Staats abzutragen. Ebenso wenig sei auf eine kurzfristige Aufhebung der Schuldenbremse zu setzen. Anne Will zitierte in diesem Zusammenhang auch den Leiter des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, der vor Illusionen warnte. Staat und Wirtschaft würden durch eine Verschuldung nicht aus den Fugen geraten. Vielmehr seien Investitionen in die Infrastruktur notwendig.

Das war auch die Meinung von Janine Wissler, der Co-Vorsitzende der LINKEN. Die Forderung ihrer Partei, eine Reichensteuer auf Einkommen von über einer Million Euro einzuführen und auch Besserverdienende stärker zu besteuern, ließ die Moderatorin noch gerade durchgehen. Schließlich seien während Helmut Kohls Regierungszeit besonders Wohlhabende mit 53 Prozent ihres Einkommens belastet worden. Doch anstatt Frau Wissler aufzufordern, weitere Details zu den Steuerplänen ihrer Partei offenzulegen, erwartete sie von ihr eine ganz andere Positionsbestimmung. Sie solle Auskunft darüber geben, ob sie nach wie vor dem trotzkistischen Flügel der LINKEN anhinge und ob ihr Austritt aus dieser (nichtoffiziellen) Parteigliederung lediglich der Verschleierung diene. Immerhin stünde diese Gruppierung unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Was Anne Will nicht erwähnte: Diese Beobachtung war u.a. von Hans Georg Maaßen angeordnet worden, der wegen seiner Nähe zu Rechtspopulisten sein Amt aufgeben musste. Mittlerweile engagiert er sich auf dem rechten Flügel der thüringischen CDU und äußert sich auf antisemitischen Foren.

Den Nachfolgern des russischen Revolutionärs Leo Trotzki scheint es ähnlich zu gehen wie ihrem Begründer. Der kämpfte einen großen Teil seines politischen Lebens gegen Stalin und wurde schließlich von dessen Schergen ermordet. Hat sich Anne Will, die sich häufig so indifferent äußert, jetzt sogar zur Stalinistin entwickelt?

Einer der bekanntesten Trotzkisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der in Frankfurt am Main geborene und in Belgien aufgewachsene Philosoph und Ökonom Ernest Mandel. Als er 1972 zum Professor für Politische Ökonomie an die Freie Universität Berlin berufen werden sollte, verhängte der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) gegen ihn ein Einreiseverbot. Es ist bedauerlich, dass Janine Wissler das und anderes nicht deutlich machte. Nach meiner Wahrnehmung argumentierte sie ohnehin schwächer als sonst.

Der Verlauf des Streitgesprächs war für die FAZ-Journalistin Helene Bubrowski Anlass, auf die vermeintlich planwirtschaftlichen Ziele der LINKEN hinzuweisen. Speziell auf deren Umverteilungs- und Enteignungspläne. Sie leugnete zwar nicht die wachsende Armut in bestimmten Milieus (Rentner, Hartz IV-Bezieher, Langzeitarbeitslose, Geringqualifizierte, Alleinerziehende). Aber so, wie sie es sagte, erklärte sie die Betroffenen zu Minderwertigen. Der letzte Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands der freien Wohlfahrtspflege bewertet die Realität völlig anders. Aber manche FAZ-Redaktionen scheinen aus der Welt gefallen zu sein.

Tino Chrupalla, stellvertretender Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion, verhielt sich bei allen Streitfragen erwartungsgemäß undiplomatisch. Er bekräftigte, was der ehemalige AfD-Politiker Junge unlängst seiner früheren Partei nachsagte. Nämlich ein pöbelnder Haufen von Proleten zu sein.
Warum man ihn, dessen rechtsextremistische Gruppierung an einer Regierungskoalition garantiert nicht beteiligt sein wird, überhaupt eingeladen hat, bleibt das Geheimnis einer Hintergrundredaktion, der viele Hintergründe nicht mehr zugänglich zu sein scheinen. Grüne und FDP waren an diesem späten Abend offenbar nicht erbeten.

Foto:
ANNE WILL am 5.9.2021
© ARD

Info:
Der Armutsbericht 2020 des Paritätischen Gesamtverband kann im Internet heruntergeladen werden: https://www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/paritaetischer-armutsbericht-2020-armut-in-deutschland-auf-rekordhoch/