kurt afÜber das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in der Vorkriegszeit

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Für wen schreibe ich diesen Artikel?  Für die fünfhundert Leute in Deutschland, die sich für das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen  interessieren? Mehr dürften es kaum sein, vermuten doch manche das Land, in dem die einen und die anderen  einst friedlich nebeneinander lebten, irgendwo hinter den Karpaten in der Heimat des Grafen Dracula.

Ich versuche, ein Taschenwörterbuch zu porträtieren, das sich mit beider Sprache befasst, der tschechischen und der deutschen, sich selbst aber „Taschenwörterbuch der böhmischen und deutschen Sprache“ nennt. Das klingt für die Ohren von heute ungewöhnlich, ist doch selten oder nie von Böhmen die Rede, geschweige denn von Mähren, dem zweiten von mehreren ehemaligen Kronländern des Habsburgerreiches, neben einem Teil Schlesiens. Auf alten Landkarten werden diese Gebiete als das Herz Europas gekennzeichnet.

Mich erinnert das Wörterbuch nicht nur an meinen, in Mähren zur Welt gekommenen Vater, sondern es ist für mich auch Symbol einer gemeinsamen Geschichte. Sein Verfasser Jan Štěpán, Direktor des Staats-Obergymnasiums  der mährischen Stadt Trebitsch, starb 1914 im Alter von 56 Jahren. Das Exemplar meines Vaters erschien 1923. Es war die 33. Auflage. Bis dahin waren bereits mehr als 200 000 Exemplare gedruckt worden, eine unglaubliche Zahl, gemessen an den wenigen Millionen Einwohnern, für die es gedacht war.

Das spricht sowohl für einen ungeheuren Bildungshunger, als auch für die Entschlossenheit, die Zukunft gemeinsam zu gestalten. In Mähren bestand die Bevölkerung  zu zwei Dritteln und in Böhmen zu drei Vierteln aus Tschechen. Der Anteil der rund drei Millionen Deutschen belief sich dementsprechend auf ein Drittel beziehungsweise ein Viertel. Nur wer beide Sprachen beherrschte,  hatte Aussicht auf Erfolg im Geschäftsleben oder im Staatsdienst.

Das Äußere des Wörterbuches lässt darauf schließen, dass es täglich benutzt wurde. Die Seiten wirken abgegriffen und ein mächtiges Heftpflaster hält auf der Rückseite den Einband zusammen. Auf den Innenseiten werben ganzseitige Anzeigen unter anderem für das vollständigste nationale Gesangbuch mit Noten. Ebenfalls auf Tschechisch wird für Božena Němcovás Welterfolg „Babička“, geworben, der sie zur Begründerin der tschechischen Nationalliteratur machte.

Mein Vater erwarb das Taschenwörterbuch an einem Wendepunkt seines Lebens. Er hatte sich nach der erfolgreich beendeten Gärtnerlehre der Politik zugewandt und verdingte sich als Redakteur bei der Kommunistischen Partei des Landes, die als einzige auch Deutschen offen stand, ihm aber den Stuhl vor die Tür setzte, als er sich mit der Führung der Partei überwarf. Dass er beide Sprachen in Wort und Schrift perfekt beherrschte, nutzte ihm freilich wenig. Als ihm nach dem Zweiten Weltkriege die Rückgabe der tschechischen Staatsbürgerschaft und der Verbleib im Lande angeboten wurde, hielt er den dauernden Verzicht auf seine Identität als Deutscher, für einen zu hohen Preis, als dass er ihn hätte entrichten wollen. Mit 50 Kilo Gepäck, darunter das Wörterbuch aus dem Jahr 1923, übersiedelte er nach Württemberg.

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