kurt und hannoverBrief an Heinrich Hannover

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Lieber Heinrich, wer so alt geworden ist wie Du, der darf müde sein, ja sogar sehr müde. Wer sich allerdings noch darüber ärgert, dass das Volk sich immer noch wie eine Schafherde von Wahl zu Wahl führen lässt, ohne wirklich etwas verändern zu wollen, der fühlt sich zwar müde, ohne es tatsächlich zu sein. In Deinem Kopf geht es noch munter zu, wie Deine Kommentare zum Zeitgeschehen beweisen. Da mögen die Hürden noch so hoch sein, Du nimmst sie mit Bravour, auch wenn es nur die grauen Gehirnzellen sind, die da im Fluge die Hürden überspringen.

Die Welt ist nur scheinbar ein unbeweglicher Koloss, wie ich einem Artikel über das "Rote Silicon Valley", mit dem Chinas digitaler Realsozialismus gemeint ist, in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" jetzt entnehmen konnte. Dort beschäftigt sich der Physiker Timo Daun mit dem von der kommunistischen Führung in Peking so bezeichneten Hauptwiderspruch zwischen der  unausgewogenen Gesamtentwicklung und den wachsenden Bedürfnissen und Wünschen der Menschen nach einem besseren Leben. Er deutet das als verstärkte Förderung des privaten Konsums. Damit würden zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Elemente noch enger zusammengeführt:  einerseits eine staatlich orchestrierte Wirtschaftsplanung, andererseits ein dynamische privatwirtschaftlicher Digitalsektor. Die dabei anfallende Datenmenge diene als Korrektiv für das Jahrhundertprojekt des Aufbaus eines Sozialismus chinesischer Prägung.

Ich bekomme eine Gänsehaut bei so viel Theorie, aber die Wirtschafts- und Zukunftsforscher des so genannten Westens werden schon wissen, was gemeint  ist. Vier von zehn deutschen Neuwagen wurden 2020 nach China verkauft. Da können die Männer und Frauen in Peking nur müde lächeln, wenn die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer eine Korvette in fernöstliche Gewässer schickt, um den Chinesen mit einem Spielzeugschwert unter der Nase herumzufuchteln. Einen Besuch des deutschen Schiffes in einem chinesischen Hafen haben sie kühl  mit dem Hinweis abgelehnt, dafür fehle das nötige Vertrauen in die Politik der Deutschen.


China ist nach Darstellung von Timo Daun inzwischen zur zweitgrößten digitalen Wirtschaft aufgestiegen und verbucht mehr als die Hälfte des online abgewickelten weltweiten Handelsvolumens. 854 Millionen Chinesinnen und Chinesen nutzen regelmäßig das Internet; in der EU sind es 445 Millionen und in den USA 313 Millionen.  Die chinesische Verfasssung  sieht das Land im "Anfangsstadium des Sozialismus", in dem das Gemeineigentum dominiere, sich aber verschiedene Eigentumsformen nebeneinander entwickellten.  Daun zitiert Yukon Huang, Senior Fellow am Carnegie Asia Program, mit den Worten: "China nutzt den Kapitalismus in erster Linie als Mittel, um seine Zwecke zu erreichen, nicht weil es seine zugrunde liegenden Überzeugungen wirklich akzeptiert."

In diesem Sinne, alter Freund, in bleibender Verbundenheit weiterhin alles Gute.
Dein Kurt.

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Der Verfaßer (rechts) mit Heinrich Hannover
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Veröffentlicht mit Einverständnis des Empfängers