Bildschirmfoto 2021 12 11 um 01.38.16Die Schweizer Familie Schwarzenbach

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Der Schweizer Historiker Alexis Schwarzenbach stammt aus der Zürcher Industriellenfamilie Schwarzenbach, kontinuierlich arbeitet er die Familiengeschichte auf, entdeckt Antifaschisten, Rassismus und Unterstützer des Nationalsozialismus – und neue Dokumente über Hitlers Zürich-Reise 1923.

tachles: Sie sind Historiker, arbeiten mit Quellen, ordnen diese ein und interpretieren sie. Sie entstammen der Industriellenfamilie Schwarzenbach, die unter anderem von Zürich aus den Nationalsozialismus unterstütze. Wie gehen Sie als Forscher damit um?

Alexis Schwarzenbach: Im Geschichtsstudium habe ich gelernt, dass es absolute Objektivität nicht gibt. Die Interpretation einer Quelle wird stets von der Subjektivität der Person beeinflusst, die sie auswertet. Je höher der persönliche Bezug zu einem Forschungsthema, desto mehr muss man als Historiker sicherstellen, dass die Leserschaft zwischen Quellen und Interpretation unterscheiden kann. Und die Quellen müssen offengelegt und für jedermann überprüfbar sein.


Mit «Die Geborene» haben sie 2004 unmittelbar nach der Schweizer Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen jüdischer Opfer des NS-Regimes eine Familienbiographie vorgelegt, in der Sie unter anderem das Leben der NS-Sympathisantin Renée Schwarzenbach-Wille und ihrer Tochter, der Antifaschistin und Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach darstellen. Sie hätten auch einen Roman schreiben können, haben aber ein Sachbuch geschrieben.

Ich habe in England studiert. Dort lernt man, dass Erzählen Teil der Geschichtsschreibung werden kann und muss. Das ist in Kontinentaleuropa anders. Hier dominieren, überspitzt gesagt, Theorie und Fussnoten. Der empirische Ansatz hat es mir erlaubt Quellen in ein erzählerisches Narrativ zu verdichten und ein Familienporträt zu schreiben, das sich auf breite Quellenarbeit stützt und den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt.


In Ihrem Buch sind Sie unter anderem der Frage nachgegangen, ob Ihre Familie den Nationalsozialisten Geld gegeben hat.

Ja. Das war und bleibt für mich eine zentrale moralische Frage. Ich hatte Indizien, aber keine Belege. Bei der Publikation von Niklaus Meienbergs Buch «Die Welt als Wille und Wahn» 1987 war ich 15. Darin kommt Urgrossmutter Renée Schwarzenbach-Wille als nazibegeisterte «Herrin von Bocken» vor. Meienberg spekuliert darüber, dass sie und ihr Mann Alfred Schwarzenbach im August 1923 unter den Gästen ihres Bruders Ulrich Wille-Rieter waren, der Hitler zu sich in die Villa Schönberg eingeladen hat. Hitler hielt dort vor etwa 40 Personen eine Rede, um Geld für seine Bewegung zu sammeln.


Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe recherchiert, gesucht, gefunden. Im Tagebuch meiner Ururgrossmutter Clara Wille-von Bismarck fand ich einen Eintrag, der beweist, dass Hitler auch in Mariafeld, dem Wohnsitz von General Wille in Feldmeilen, zum Mittagessen eingeladen wurde. Im Archiv der Firma Schwarzenbach in Thalwil fand ich eine Abschrift einer Rede, die Hitler in Zürich gehalten hat.


Waren Geldspenden damit bewiesen?

Nein, aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es Belege dafür vermutlich nie gegeben hat. In seiner Zürcher Rede malt Hitler das Schreckgespenst einer kommunistischen Revolution in Deutschland an die Wand und wirbt für die Nazis als einzige politische Kraft, die das durch eine «Diktatur von rechts» verhindern kann. Es war allen potentiellen Geldgebern klar, dass die Nazis die Weimarer Republik stürzen wollten und sich damit auf dem Weg in die Illegalität befanden. Wenn man so etwas unterstützt, lässt man sich keine Quittung geben.


Haben Sie trotzdem Beweise gefunden?

Ja, dank der österreichischen Historikerin Brigitte Hamann («Hitlers Wien»). Sie arbeitete damals an einer Biographie der Hitler-Freundin Winifred Wagner und interessierte sich ebenfalls für die Finanzquellen der frühen Hitler-Bewegung. Wir lernten uns in München kennen, gaben einander Tipps zu interessanten Archiven und tauschten Quellen aus. Eines Tages schickte mir Frau Hamann die Kopie eines Briefes von Winifred Wagner an eine Freundin, der beweist, dass mein Urgrossvater Alfred Schwarzenbach 1928 Rudolf Hess anonym 3000 Mark zukommen liess. Es war sehr wichtig für mich, das schwarz auf weiss zu sehen. Das Dokument war das Ende der Spekulation und die Bestätigung einer Vermutung. Die Nazis haben von meiner Familie Geld erhalten.


Warum hat Ihre Familie die Nazis unterstützt?

Mein Urgrossvater Alfred Schwarzenbach hat sie vermutlich als Bollwerk gegen den Kommunismus verstanden. In seinen Geschäftsberichten nach dem Ersten Weltkrieg nimmt er die Gefahr eines Überschwappens der russischen Revolution auf Westeuropa sehr ernst. Bei seiner Frau war es eindeutig Revanche für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Sie empfand den Versailler Friedensvertrag als Schande. Die «Machtergreifung» Hitlers 1933 befürwortete sie, als Frankreich 1940 besiegt wird, war sie ausser sich vor Freude. Interessanterweise spielte der Antisemitismus in der politischen Weltanschauung meiner Urgrosseltern keine Rolle.


In seiner Zürcher Rede erwähnt Hitler die Juden ja auch mit keinem Wort.

Genau. Vermutlich wusste er durch Rudolf Hess, dass er damit in Zürich nicht punkten konnte. Hess wohnte im Wintersemester 1922/23 bei Zürcher Verwandten und gab vor, am Polytechnikum zu studieren. Tatsächlich warb aber allenthalben für die Sache Hitlers, so auch bei Ulrich Wille-Rieter, dem Bruder meiner Urgrossmutter. Wille schrieb Hess Ende 1922: «Ausrottung des Marxismus und daneben Ausrottung der Juden mit Maschinengewehren ist ein Irrtum.» Hitler passte seine Rhetorik übrigens auch in Deutschland seinem Publikum an. In Bierhallen warnte er vor dem internationalen Judentum, bei reichen industriellen vor der kommunistischen Weltrevolution.


Wie antisemitisch war Zürich in den 1920er Jahren?

In Zürich gab es wie in allen Städten Westeuropas einen Grundantisemitismus. Es gab antijüdische Stereotypen, Juden blieb der Zugang zu vielen gesellschaftlichen Dingen verwehrt, zum Beispiel Sportvereinen. Aber Zürich war nicht Hitlers Wien, wo Karl Lueger schon vor dem Ersten Weltkrieg mit politischem Antisemitismus Wahlen gewinnen und Bürgermeister werden konnte.


Fast 20 Jahre nach der Publikation Ihres Buches haben Sie nun einen Brief ihres Grossvaters Hans Schwarzenbach entdeckt, der weitere Details zum Hitler-Besuch von 1923 liefert. Wie ist es dazu gekommen?

Den Brief hat mein Großvater 1972 dem Historiker Klaus Urner geschrieben, dem Gründer des Archivs für Zeitgeschichte an der ETH Zürich. Urner interessierte sich damals schon für Zürich und die frühe Hitler-Bewegung. Er kontaktierte meinem Grossvater, sie trafen sich zum Mittagessen und danach hat mein Grossvater Urner diesen Brief geschrieben. Er beweist, dass Hitler 1923 nicht nur in der Villa Schönberg und in Mariafeld bei Verwandten von mir zu Besuch war, sondern auch bei meinen Urgroßeltern in Bocken.

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In Ihrem Buch von 2004 steht das aber nicht.

Nein, denn damals wußte ich das auch noch nicht. In den Unterlagen meines Grossvaters hatte ich nur einen Brief von Klaus Urner gefunden, die Antwort fehlte. Ich habe Urner dann kontaktiert und ihn um eine Kopie des Antwortschreibens gebeten. Er lehnte ab, weil er den Brief zuerst selber auswerten wollte. Das ist bis heute nicht geschehen. 2011 haben mein Vater und ich dann unser Firmen- und Familienarchiv der Zentralbibliothek (ZB) Zürich geschenkt. Es war sehr viel Material, 90 Laufmeter. Die ZB hat alles geordnet und inventarisiert, dabei ist schliesslich auch eine Kopie des Antwortschreibens von 1972 aufgetaucht.


Der Brief Ihres Grossvaters ist unaufgeregt und kommt zum Schluss, dass Hitler kein Geld von der Familie erhalten hat.

Mein Großvater hat in den Kontounterlagen der Familie nachgeschaut und dort nichts Auffälliges gefunden. Aber eben, ich glaube, dass schon 1923 dafür gesorgt wurde, dass es keinen «Paper trail» gibt. Dass mein Grossvater einem Historiker so bereitwillig Auskunft zu einem Thema gab, womit nach 1945 niemand mehr gerne in Verbindung gebracht wurde, hat mich indessen gefreut. Er hätte ja auch sagen können, er erinnere sich an nichts. Ausserdem hat er Klaus Urner das Gästebuch von 1923 ausgeliehen.


Darin hat Hitler aber nicht unterschrieben.

Nein, und die Frage ist, warum. Heikel fanden es meine Urgrosseltern nicht, wenn sich Nazis darin verewigt haben. Rudolf Hess trägt sich 1927 dort zum letzten Mal ein. Eventuell teilten meine Urgrosseltern die auch in anderen Quellen festgehaltene Meinung von General Wille, Hitler sei ein Phantast und seine Umsturzpläne seien wenig realistisch.


Wie wichtig ist der Brief als historische Quelle?

Er ist nur ein ganz kleines Element in der Biographie von Adolf Hitler, aber ein wichtiges Dokument, um die Geschichte von Zürich in der Zwischenkriegszeit zu verstehen. Das imposante, denkmalgeschützte Haus über dem Zürichsee, in dem Annemarie Schwarzenbach aufgewachsen ist, in dem unzählige berühmte Musiker von Toscanini bis Richard Strauss ein und aus gingen, ist jetzt halt auch ein Haus, in dem Adolf Hitler zum Tee eingeladen worden ist. Damit steht Bocken als «pars pro toto» für Zürich und seine Eliten.


Was meinen Sie damit?

Bei Hitlers Zürcher Rede waren gemäss der bayerischen Polizei, die Hitler damals schon überwachte, etwa 40 Personen anwesend. Eine Gästeliste gibt es nicht. Neben Mitgliedern der Familien Wille und Schwarzenbach haben sich also auch noch eine ganze Reihe anderer reicher Schweizer für Hitler interessiert.


Wie funktionierten die Schweizer Eliten?

Lange Zeit hat das kaum jemanden interessiert. Seit einigen Jahren beschäftigen sich jedoch vor allem Historikerinnen und Historiker aus der Romandie damit. In Lausanne gibt es die Datenbank «Elites Suisses», die ständig wächst, und ein grosses Forschungsprojekt untersucht das Thema für verschiedene Schweizer Städte, darunter Zürich. Ich kenne mich nur in meiner eigenen Familiengeschichte aus. Die Schwarzenbachs waren keine Stadtbürger, sie stammten aus Thalwil. Dank ihrem wirtschaftlichen Erfolg in der Seidenindustrie gelang ihnen im 19. Jahrhundert der Aufstieg in die Zürcher Gesellschaft. Mein Ururgrossvater Robert Schwarzenbach-Zeuner zieht als erstes Familienmitglied von Thalwil nach Zürich, kauft sich die Villa Windegg am Paradeplatz, fördert Opernhaus und Tonhalle. Sein Sohn Alfred Schwarzenbach-Wille zieht wieder raus aufs Land. Er kauft 1912 mit Bocken ein Haus mit Geschichte und inszeniert sich als jemand, der schon immer zur Zürcher Elite gehört hat. Die Familie Schwarzenbach ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Zürcher Eliten Newcomer aufnahmen, sofern sie reich und protestantisch waren.


Welche Rolle spielte der Protestantismus?

Die Zürcher Eliten blieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein protestantisch geprägt. Das zeigt sich unter anderem am Widerstand, den gemischt-konfessionelle Beziehungen auslösten. Mein Grossonkel heiratete 1934 eine Italienerin. Das war kein Problem, weil sie vor der Ehe protestantisch wurde. Sein Bruder, mein Grossvater, verliebte sich zur selben Zeit auch in eine Katholikin, meine spätere Grossmutter. Sie wollte nicht konvertieren und die beiden durften lange Zeit nicht heiraten. Als mein Vater 1939 zur Welt kommt, wird er als erster Schwarzenbach seit der Reformation katholisch getauft, als mein Grossvater selbst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Katholizismus konvertiert, ist das ein mittlerer Skandal. Auch dass James Schwarzenbach, ein Cousin meines Grossvaters, in den 1930er Jahren katholisch wurde, war ein bewusster Bruch mit Zürcher Traditionen.


James Schwarzenbach ist vor allem wegen der der nach ihm benannten fremdenfeindlichen Initiative von 1970 bekannt. Welche Rolle spielte er in der Zwischenkriegszeit?

Er war wie ziemlich viele junge Zürcher seiner Generation Mitglied der Fronten. Gegen das antifaschistische Kabarett Pfeffermühle von Annemarie Schwarzenbachs Freundin Erika Mann zettelte er 1934 in Zürich einen Krawall an und rechtfertigte sich dafür in einem Zeitungsartikel. Annemaries Mutter Renée fand das herrlich, Annemarie selber kritisierte den «dummdreisten Artikel» ihres Cousins scharf, «der in seinem Leben noch nie um irgend etwas kämpfen oder auch nur sich sorgen musste».


Wem gehört Bocken heute?

Meine Großeltern sind 1980 ausgezogen, das Haus wurde dem Kanton Zürich verkauft. 1996 hat die Credit Suisse das Anwesen übernommen. Als mein Buch 2004 erschien und ein Bestseller wurde, wollte die Schweizer Illustrierte einen Beitrag über mich in Bocken machen. Wir haben bei der Bank nachgefragt, ob das geht, und durften dann im Park das Interview und ein paar Fotos machen. Die Credit Suisse hat extra einen Mitarbeiter von Media Relations vorbeigeschickt, der immer um uns herumstand und zuhörte. Die Journalistin der «Schweizer Illustrierten», Isabelle Teuwsen, sagte ihm irgendwann, so könne sie nicht arbeiten, und hat ihn gebeten, sich etwas zu entfernen. Frau Teuwsen hat übrigens danach eine der schönsten Rezensionen meines Buches geschrieben. Sie hat die Ambivalenz und Vielschichtigkeit der einzelnen Familienmitglieder betont, genau das, was mir beim Schreiben wichtig gewesen war.


Wie interpretieren Sie das Verhalten der Credit Suisse 2004?

Da der Mitarbeiter von der Medienabteilung kam, ging es wohl in erster Linie um Marketing und Imagepflege. Die Bank hatte offenbar Angst vor negativen Aspekten der Bockener Geschichte. Aber dass Hitler dort zu Besuch war, wusste ich 2004 ja noch gar nicht und habe es deswegen auch nicht erzählt.


Zurzeit sorgt die Bührle-Sammlung im Kunsthaus weltweit für negative Schlagzeilen. Unter anderem, weil die Familie Bührle der Bergier-Kommission 2001 mitgeteilt hatte, es seien keine Unterlagen zu den Bildern mehr vorhanden, später kamen sie dann doch ans Licht. Ihre Familie scheint mit der Vergangenheit anders umgegangen zu sein, warum?

In der Tat haben wir uns offenbar für eine andere Strategie entschieden. Wir haben immer Auskunft gegeben, wenn jemand eine Frage hatte, und haben Quellen aus Familienbesitz zur Verfügung gestellt. Neben meinem Grossvater hatte zum Beispiel auch seine Schwester Suzanne Öhman schon lange, bevor das Werk von Annemarie Schwarzenbach 1987 wiederentdeckt wurde, einer amerikanischen Forscherin Fragen zu ihr beantwortet. Ich selbst habe das später auch so gehandhabt, weil die Frage nach den Nazis immer wieder aufkommt. Ich wollte zuerst wissen, was wirklich passiert ist, und dann meine Erkenntnisse mit anderen teilen.

Foto:
Das Landhaus Bocken wurde 1688 vom Zürcher Bürgermeister Andreas Meyer-Werdmüller in Horgen erbaut. Aufnahme: Saal mit Stuckdecke von 1688, Möblierung der Familie Schwarzenbach um 1920
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. Dezember  2021