Über die Grenzen christlicher Naivität

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Über weltanschauliche Überzeugungen, insbesondere über religiöse, ist erfahrungsgemäß ein Streit mit Andersdenkenden müßig.

Über wissenschaftliche Erkenntnisse hingegen ist er dann sinnvoll, falls alle Beteiligten über den gleichen Informationsstand verfügen und lediglich Einzelaspekte ungeklärt sind. Wenn jedoch unreflektierte Meinungen mit beweisbaren Aussagen kollidieren, lassen sich keine fruchtbaren Diskussionen mehr führen. Das zeigen die Auseinandersetzungen über die Gefahren von Covid-19 sowie über das Verbreitungspotential des Virus durch Ungeimpfte.

Jetzt hat der Facebook-Blogger Thorsten Latzel dieses Thema im Rahmen seiner „theologischen Impulse“ aufgegriffen und die herrschenden Irrungen und Wirrungen dadurch noch vergrößert, ihnen sogar eine Legitimität zuerkannt, die diesen nicht zusteht. Thorsten Latzel ist nicht irgendwer. Sondern seit März 2021 Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), davor war er acht Jahre Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt. Möglicherweise druckt „Weltexpresso“ deswegen seine „Impulse“ regelmäßig ab.

Mit seinen „Sieben goldenen Regeln, wie wir über Corona diskutieren sollten“ (15. Dezember), hat der Kirchenmann jedoch nicht nur in ein Fettnäpfchen getreten, sondern in einen Sündenpfuhl.
Denn sich angesichts der objektiv vorhandenen Gefahren und mehr als 100.000 Toten in Deutschland nicht impfen zu lassen, hat weder etwas mit einer anderen Einschätzung der Sachlage noch mit Meinungsfreiheit zu tun. Dieses Ignorieren der eigenen Gesundheit schließt auch den fehlenden Respekt vor dem Leben der Mitmenschen ein. 80 bis 90 Prozent der Schwersterkrankten, die auf Intensivstationen um ihr Leben ringen, sind uneinsichtige Ungeimpfte. Und diese Mehrheit blockiert die Behandlungsmöglichkeiten anderer, etwa jener, die an Krebs erkrankt sind oder einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben. Ich empfehle Thorsten Latzel, sich auf den Intensivstationen evangelischer Krankenhäuser umzusehen und umzuhören. Die hochmotivierten Pflegerinnen und Pfleger, die mittlerweile am Rande ihrer Leistungsfähigkeit sind, würden auf seine seichten Sprüche von Feindesliebe mit einem Wutgeheul antworten, das lauter wäre als die legendären Posaunen von Jericho.

Der Lernprozess, auf welchen Latzel in seinen „goldenen Regeln“ abhebt, ist von den Geimpften längst absolviert worden. Die Impfgegner sind noch nicht einmal dazu bereit, sich auf einen solchen einzulassen. Mich stört auch das dümmliche Gerede von „öffentlich geteilten, wissenschaftlichen Erkenntnissen“, das jegliche Distanz zur Verdummungsstrategie von Querdenkern vermissen lässt. Wer die Kulturtechnik des verstehenden Lesens und Zuhörens gelernt und verinnerlicht hat, konnte sich sachkundig machen und hat sich für das Impfen entschieden. Das lässt sich mit „teilen“ nicht beschreiben, jenem Verb aus dem Agitationswörterbuch der asozialen Medien. Ich will mich weder dort noch anderswo auf einen Meinungsaustausch mit Alice Weidel und ihren braun-blauen Demokratiefeinden einlassen.

Wenn Thorsten Latzel darauf hinweist, dass sich Wissenschaftler in einem ständigen Erkenntnisprozess befinden, darf man diesen nicht unterschwellig gleichsetzen mit den Fake News bei Facebook, Instagram und WhatsApp.
Es führt auch nicht weiter, wenn er in seinen Regeln 5 bis 7 den vorangegangenen etwas von deren Schärfe nimmt. „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein“ heißt es bei Matthäus im 5. Kapitel, Vers 37. Zumindest als Christ sollte man das beherzigen.

König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der 1817 die lutherischen und reformierten Gemeinden zwangsvereinte und damit den Grundstein legte für die spätere „Evangelische Kirche der altpreußischen Union“, empfahl seinen Pfarrern, sich neben der Theologie auch mit philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie vertraut zu machen. Denn Theologie könne nur bestehen, wenn sie allgemeinwissenschaftliche Grundsätze berücksichtige.

Tatsächlich kann man über den Glauben an eine höhere Macht nur mit solchen Menschen diskutieren, mit denen es elementare Übereinstimmungen gibt. Die Ungläubigen hingegen fordern Beweise ein und solche lassen sich im Bereich des Irrationalen nicht führen.

Der Theologie ist es neben der literaturwissenschaftlichen Erforschung biblischer Texte (die jeder Exegese vorangehen muss) nur noch möglich, weisheitliche Erkenntnisse einer Konfession, die sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben, zur Grundlage ihrer ethischen Überzeugung zu machen. So hätte Thorsten Latzel beispielsweise eine Grundfrage von Sein und Nichtsein ernst nehmen sollen, die sich in Deuteronomium, Kapitel 30, Vers 15 findet: „Ich habe euch vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse. Ihr aber wählet das Leben.“ Allein daraus ließe sich die Pflicht zu einer Gardinenpredigt gegen Corona-Leugner ableiten. Mit der Aufforderung zur Umkehr.
Gegen das ewige Ausweichen der Kirchen vor den realen Problemen und deren Kleinreden lässt sich auch ein Vers aus dem Lukas-Evangelium gut gebrauchen: „Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht“ (Kapitel 12, Vers 51). Dieses Bibelwort liefe auf einen Streit hinaus, nicht nur über die Sache mit Gott und den Göttern, sondern über die Widrigkeiten der Welt und das angesichts von Leid und Unrecht gebotene Tun und Lassen.

Mich irritiert auch die Selbstverständlichkeit, mit der Thorsten Latzel kommerzielle und definitiv asoziale Medien wie Facebook benutzt. Zwar soll sich jener unbekannte jüdische Prediger namens Jesus, über den es keine historisch relevanten Zeugnisse, sondern lediglich Legenden gibt, den Sündern zugewandt haben. Aber das waren Randständige in einem autoritären Gottesstaat, die wegen ihrer sozialen Situation diffamiert wurden. Es waren keine Verbrecher und keine politischen Gewalttäter und Verleumder.
Der Moderator Jan Böhmermann forderte unlängst in der TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ die Enteignung des Facebook-Konzerns und begründete das mit dessen Akzeptanz rassistischer Videos aus rechtsextremen Milieus, der Inkaufnahme von psychischen und somatischen Schäden bei jungen Frauen, deren Lebensinhalt um Lifestyle-Propaganda auf „Instagram“ kreist sowie mit der Ausbeutung von Mitarbeitern.

Die evangelische Kirche bekräftigte in ihrem „Publizistischen Gesamtplan“ von 1979 ihren Anspruch, denen eine Stimme zu geben, die zu schwach sind, um sich selbst zu Wort zu melden. Sie könne es sich leisten auszusprechen, was andere verschwiegen. Doch mittlerweile verschweigen immer mehr evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer auf sämtlichen Amtsebenen selbst das, was längst ein unwidersprochener Teil der öffentlichen Meinung ist. Nämlich dass Facebook & Co Domizile von Persönlichkeitsgestörten, Rechtspopulisten und Verfassungsfeinden, sexuell Verklemmten sowie unendlich viel Verblödeten sind.

Foto:
Jan Böhmermann und die Facebook-Papers
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