Gegenseitiges Lernen in Afrika

Klaus Jürgen Schmidt

Norddeutschland (Weltexpresso) – Am Horizont hängen schwere Gewitterwolken, das Abendlicht verwandelt den Himmel in ein bizarres Farbenspiel, tiefes Orange geht rasch über in kaltes bläuliches Rot mit purpurnen Streifen, bleierne, scharf abgegrenzte Wolkenfetzen fangen letzte Sonnenstrahlen ein, die das graue Blei an den Rändern gleißend schmelzen lassen — sie scheinen bei ihrer rasenden Fahrt über das Firmament jeden Augenblick zu kollidieren, herabzutropfen auf die kleine Ansammlung von hingeduckten Steingebäuden, hinter deren Öffnungen das Licht nackter Glühbirnen glimmt. Ein Neonröhrenkasten am Ende einer ragenden Mastsilhouette zeichnet ein längliches Rechteck weißen Kunstlichts in den Abendhimmel. Die Nacht bricht herein über Zimbabwe.


Mit den intensiver werdenden Lichtstrahlen aus Tür- und Fensteröffnungen dringt der Lärm des Feierabends aus der Bierbar, übersteuerte Lautsprechermusik, Lachen, Streit, das Klirren von Bierflaschen.
Ich drängele mich durch die Gruppen von Männern und Frauen, die neben dem klaren Bier in Flaschen große Dreilitertöpfe aus Plastik mit dem mittlerweile industriell hergestellten traditionellen Maisbier herumreichen, dem breiigen, leicht säuerlich schmeckenden "Chibuku". Ich will eine Kiste Softdrinks kaufen für meine Kollegen, die drüben in der Gemeindehalle auf den Beginn eines Theaterstücks warten.

Die Verwirklichung eines Drama-Workshops im Erfahrungsaustausch zweier benachbarter afrikanischer Radiostationen hat zwei Jahre gebraucht. Toni Kandiero, Generalmanager der Malawi Broadcasting Corporation hatte früh seine Bereitschaft erklärt, einen seiner Redakteure nach Harare zu schicken, aber die Zimbabwe Broadcasting Corporation tat sich schwer mit dem Angebot. Es bedurfte einer Abstimmung in der gemeinsamen Regierungskommission, bevor sich Marvin Hanke, vielfacher Gewinner von Hörspielpreisen innerafrikanischer Wettbewerbe, auf den Weg machen konnte, um vier Wochen lang sehr praktisch mit den Kollegen von Radio 4 zusammenzuarbeiten. "Hanke" heißt in der Sprache seines Stammes "Let's go" — armer Marvin, die Kooperation artete aus zu einem Hürdenlauf mit für ihn ungewohnten Hindernissen. Für mich wurde sie zu einem Lehrstück über Rezeptionsprobleme einer afrikanischen Gesellschaft im Umbruch.

Vierundzwanzig Jahre lang hatte der malawische Rundfunk Gelegenheit, einen eigenen Weg zu finden, und trotz drastischer Gängelung unter dem Dach eines autoritären Staatsgefüges mit dem diktatorischen alten Mann Hastings Banda im lebenslangen Präsidentenamt haben es kompetente Radio-Manager geschafft, o h n e fremde Hilfe Freiraum für talentierten Nachwuchs zu schaffen und mit veraltetem Gerät dennoch ein professionelles Programm zu produzieren, das internationalen Maßstäben gerecht wird. Phantasie und Pfiffigkeit ersetzten in Malawi fremde Geldgeber. Marvin Hanke, vor acht Jahren vom Tontechniker zum Leiter der Drama-Abteilung berufen, nachdem er sich durch eigene literarische Arbeiten als kompetent ausgewiesen hatte, merkte bald, daß ohne ein vernünftiges Budget kein Programm zu machen war.

"Lieber sollten wir den Versuch wieder einstellen, als nur halbe Sachen zu machen," sagte er seinem Chef, und Toni Kandiero sann mit ihm über Geldquellen nach. Eine war bald gefunden: Kandiero verfügte die Ausgabe von nur einem Kugelschreiber pro Vierteljahr an jedes MBC-Mitglied und gab das gesparte Geld an die Hörspielabteilung — wohl unter dem Motto "Kleinvieh macht auch Mist".

Hanke holt an seinem ersten Tag bei ZBC Tonbänder aus seinem Gepäck, Hörspiele, die er bei MBC produziert hat. In der Diskussion um seine Produktion "AN EYE FOR AN EYE" entzünden sich Argumente über die Zeichnung seiner Charaktere: Reagiert ein afrikanischer Ehemann so, wenn er erfährt, daß ihn seine Frau betrügt? Das Stück spielt im städtischen Milieu; ein junger Radio 4-Kollege wirft Hanke vor, seinen Darstellern in ihren Rollen eine weiße Verhaltensform verpaßt zu haben. Hanke hört sich das Argument an, denkt nach und sagt dann: "Sipo — wenn ich dich anschaue, was sehe ich dann? Ich sehe dein schwarzes Gesicht und denke, du bist ein Afrikaner wie ich. Dann schaue ich ein Stück tiefer und sehe deine Krawatte, deinen Anzug, deine Armbanduhr — vom Hals abwärts kleidest du dich wie ein Weißer. Wo hört bei uns im Kopf der Afrikaner auf, wo fangen wir an, schon wie die Weißen zu denken?"

An diesem Abend wollen wir uns gemeinsam ein Theaterstück ansehen, das dann am folgenden Wochenende mit unserem Übertragungswagen für eine Rundfunkfassung aufgezeichnet werden soll. Dem Distriktverwalter im von Harare eine Stunde entfernten Mazowe haben wir bei einer Vorbesprechung klargemacht, daß er für diesen Zweck unter den Laiengruppen in seinem Verwaltungsbereich eine heraussuchen möchte, die sich in der Shona-Sprache mit alltäglichen Dorfproblemen auseinandersetzt. Außerdem soll, wie sonst auch üblich, Publikum dabeisein — ein ganz gewöhnlicher dörflicher Theaterabend also, der uns in die Lage versetzen soll, das Stück vorher kennenzulernen, um dann im Rahmen des Workshops über Methoden zu diskutieren, es rundfunk-gerecht aufzunehmen.

Das Publikum tröpfelt — hauptsächlich Kinder, wo bleibt die Menge drüben aus der Bierhalle? Als das Stück beginnt, merke ich, daß sie offenbar über einen Wissensvorsprung verfügte: Vorgeführt wird uns — auf Englisch — ein Propagandastück mit einer kruden Interpretation des Todes von Samora Machel, als Auftragsarbeit kürzlich vorgetragen unter pflichtgemäßem Beifall des zimbabweschen Exekutivpräsidenten. Vierundzwanzig Schüler haben fast ein Jahr geübt — sie geben sich solche Mühe und erreichen doch nur, daß das unmündige Publikum an den unpassendsten Stellen lacht und meine Kollegen peinlich berührt die Nasen zu Boden senken.

Marvin Hanke sitzt das Stück neben mir eisern durch und ich schwitze bei der Vorstellung, daß jeden Augenblick anti-malawische Parolen ertönen. Ich schließe die Augen und sehe mich wieder mitten in Tränengasschwaden im Zentrum von Harare:
Der Mob tobt durch die Stadt, die Vertretung der südafrikanischen Luftfahrtgesellschaft ist schon in Flammen aufgegangen, jetzt brennt das Büro der malawischen Fluglinie in der Julius Nyerere-Straße, und vor dem Gebäude der diplomatischen Vertretung Malawis werden Fahrzeuge zertrümmert. Die Parolen sind von einer Studentenversammlung erst achtunvierzig Stunden nach dem Absturz von Machels Flugzeug bei einem abendlichen Meeting in der Universität ausgegeben worden. Malawi wurde dabei der Kollaboration mit Südafrika beschuldigt und der Unterstützung der MNR-Banditen in Mozambique. Einen ganzen Vormittag sieht die Polizei tatenlos zu wie Büros geplündert und angezündet werden, wie weiße Autofahrer aus ihren Fahrzeugen gezerrt und verprügelt werden.
Ich halte mit beiden Händen meine sämtlichen Ausweise hoch über dem Kopf und brülle: "Presse — ich bin mit der Zimbabwe Broadcasting Corporation!"
Dabei hatte ich nur das Postfach leeren wollen.
Am späten Mittag kommt die Anweisung zum Durchgreifen, Sturmtruppen der Polizei machen jetzt Jagd auf die Randalierer, Tränengaskanister fliegen in Cafes, in denen die jungen Leute Zuflucht gesucht haben, Knüppel sausen auf Köpfe und Schultern der Fliehenden, Festgenommene werden auf Lastkraftwagen zusammengepfercht — Prozesse etwa wegen Landfriedensbruch finden nie statt.
Unter dem Druck der Frontlinien-Staaten schickte später Malawi die bis dahin von seinem Gebiet operierenden MNR-Verbände über die Grenzen, die östlichen Regionen Zimbabwes wurden ihr künftiges Operationsfeld, der Krieg in Mozambique forderte nun nahezu wöchentlich auch in zimbabweschen Dörfern Opfer — zerstückelt, verbrannt, geschändet.

Das spielen die Kinder auf der Bühne, aber ihre Botschaft — verkrampft und voller unfreiwilliger Komik — kommt nicht an, bewirkt eher das Gegenteil. Wie, um Himmels willen, sollen wir das in einer Rundfunksendung verarbeiten?
Das ganze Unternehmen absagen? Ein Stück nicht aufnehmen, das den Applaus des Präsidenten fand? Der raffinierte Distriktverwalter beobachtet aus der Distanz unsere Diskussion. Er hat uns ausgetrickst, und ich erkenne rasch die Aussichtslosigkeit, hier noch professionell argumentieren zu wollen. Also wird das Stück als ein "ausgezeichnetes" Experiment deklariert, technische Aufnahmekriterien zu erproben — wie geplant — am nächsten Sonnabend, ohne Publikum.

Wir sitzen im Kreis in der noch leeren Aula — Vorbesprechung. Der Leiter der Drama-Abteilung hat das Skript des Stückes noch rechtzeitig zugeschickt bekommen, aber im Büro liegengelassen. Dem Ü-Wagen-Techniker hat er nicht gesagt, welche Geräte gebraucht werden — trotz unseres Ausfluges vor drei Tagen ist überhaupt nicht besprochen worden, wie das Theaterstück für den Rundfunk aufgenommen werden soll. Marvin Hanke hat die Vorbereitung absichtlich dem Radio-4-Team überlassen. Eine Diskussion beginnt über die Notwendigkeit, nicht bloß Außenaufnahmen, sondern überhaupt jede Produktion sorgfältig zu planen, und die Techniker dabei von vornherein einzubeziehen.
Kingsley Banda, der frustrierte alte Rundfunkhase, lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und sagt: "Er hätte doch kommen können, er muß doch dafür sorgen, daß alles im Ü-Wagen ist!"
"Aber wie kann er denn wissen, was du geplant hast, wenn ihr nicht miteinander redet," mische ich mich ein — und singe das alte Lied, bei dem ich mich bemühen muß, nicht in laute Töne zu verfallen. Planung, Organisation, Koordination — seit drei Jahren sinniere ich darüber nach, woran es liegt, daß aus Fehlern selten gelernt wird, sondern immer wieder die gleichen Frustrationen in Kauf genommen werden.
"Wir sind keine Papageien, Mr. Schmidt," sagt da Kingsley sehr förmlich und blickt an die Decke. Es ist ihm herausgerutscht — und eine Vermutung bestätigt sich: Bei Dikussionen zwischen Weiß und Schwarz wird immer noch ein Oben und ein Unten empfunden, der A u s t a u s c h von Erfahrungen zwischen den Rassen hat ja eben erst begonnen. Die Vermittlung von Ergebnissen praktischer Erfahrung im Wettbewerb kreativer Talente u n d ökonomischer Zwänge, scheitert oft, weil hinter professioneller Argumentation weiße Arroganz gewittert wird. Umgekehrt bleibt dem lernwilligen Weißen häufig der Zugang zur Logik durchaus sinnmachender, afrikanischer Strukturen verborgen, weil Minderwertigkeitsgefühle die nötige Aufklärung verhindern.

Einsätze von Übertragungswagen werden gewöhnlich von einem Mitglied des ZBC-Sicherheitsdienstes begleitet. An diesem Wochenende ist der Chef persönlich mitgekommen, ein ehemaliger Offizier der Befreiungstruppen, dem jetzt der Geduldsfaden reißt:
"Wenn es erlaubt ist, will ich euch mal erzählen, was im Krieg passiert wäre, wenn wir nicht den letzten Soldaten über unsere Pläne informiert hätten. Gegenseitig erschossen hätten wir uns, auf die Minen der Nachbareinheiten wären wir getrampelt. Und nicht nur das, wir haben sehr rasch begriffen, das kein Einzelner die Weisheit gepachtet hat. Soweit ich das hier verstehe, ist das ein neues Feld von Erfahrungen, in dem wir uns anstrengen müssen, keine Fehler zu wiederholen. Ich verstehe nichts von Rundfunk, aber wie kann man ein gemeinsames Ziel erreichen, wenn man keine Einigung erzielt, nicht miteinander redet?
Danke für die Aufmerksamkeit, mehr hab ich nicht zu sagen."

Nach der Aufnahme, die später noch im Studio bearbeitet wird, lade ich die Schulkinder zum Mittagessen ins Mazowe-Hotel. Es gibt ein paar Ansprachen. Rechts neben mir sitzt der erste Knirps der Kinderreihe, brav die Serviette am Hals, stumm wie ein Grab. Als das Dessert aufgetragen wird, frage ich ihn nach seinem Namen, ich habe mich ja schon bei meiner Dankesrede vorgestellt.
"Also, du weißt, wie ich heiße — was weißt du sonst noch von mir?"
Der Junge schaut mich mit großen Augen an und bleibt stumm.
"Willst du sonst nichts wissen?"
"Doch."
"Und warum fragst du mich nicht?"
Unser einseitiges Gespräch erregt die Aufmerksamkeit der Nachbarkinder. Die Bohnenstange, die im Stück einen MNR-Banditen mit immer wieder drollig vorgeschobener Unterlippe und Holzgewehr spielt, findet als erster den Mut, den Mund aufzumachen.
"Sir, darf ich eine Frage stellen?"
"Nur zu — oder dürft ihr beim Essen nicht reden?"
"Wie funktioniert der Übertragungswagen?"
Na also, ich konstatiere eine durchaus unverdorbene Neugier, die ich sogleich zu stillen versuche. "Sagt mal," frage ich danach, "merkt ihr da oben auf der Bühne eigentlich, was unten im Publikum vorgeht, wenn ihr spielt?"
Die Gruppe um mich ist größer geworden, sie haben den Eisnachtisch stehen gelassen, und ich kriege kaum noch Luft.
"Was denn?"
Vorsicht, denke ich, und schaue zum Lehrer am anderen Ende der Tafel.
"Na, neben mir haben ein paar Zuschauer gelacht, als die Leute im Dorf von Banditen überfallen wurden."
"Die lachen da immer!"
"Wie kommt das denn?"
Die Kinder schauen sich an.
"Der Lange zieht immer solche Grimassen."
Die Bohnenstange wehrt sich. "Was für Grimassen?"
"Na, deine Unterlippe — da muß man doch lachen," kichert ein Mädchen.
"Wißt ihr," sage ich, "wenn professionelle Theatergruppen ein Stück auf die Bühne bringen, dann ist es beim zehnten Mal niemals genauso wie beim ersten Mal. Die Schauspieler und der Regisseur beobachten genau, wie das Publikum reagiert, und sie ändern Stellen, bei denen sie merken, daß das Publikum sie nicht versteht. Aber dafür muß man miteinander reden. Redet ihr miteinander?"
"Wir spielen immer noch genauso wie beim ersten Mal, bloß manchmal fällt einem was runter — und dann lachen die Leute wieder."
"Na, das passiert dem besten Schauspieler," und ich erzähle ein paar Anekdoten. "Das wichtigste ist, daß man miteinander spricht und nicht gleich eingeschnappt ist, wenn jemand Vorschläge macht oder eine neue Idee hat."

Da betrete ich ein heikles Feld, das die Erwachsenen in diesem Land bekanntlich mit dem Schild "Minengefahr" versehen haben. Aber das Interesse der Kinder, die ihr Eis im Becher zugunsten eines lebhaften Meinungsaustausches schmelzen lassen, ermutigt mich, ein Korn zu säen:
"Gebt euch bloß nie zufrieden mit einer Auskunft, fragt immer 'warum' — versprochen?"
"Versprochen!"

Der ahnungslose Lehrer reicht mir zum Abschied die Hand und bedankt sich für die Gespräche mit seinen Schülern — hoffentlich bereut er es nicht!


Foto:
© KJS-Archiv

Info:
(Aus meinem Buch: „Wie ich lernte, die Welt im Radio zu erklären“)

Quelle: