Friede fur die Ukraine 2Zivile Strategien können ein Mittel gegen Terror sein

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Terrorangriff des russischen Diktators Wladimir Putin und seiner Kreml-Bande gegen die Ukraine stellt die Bedrohten vor existentielle Fragen.

Wie sollen sie einem kriegerischen Angriff begegnen, wenn ihre Verteidigungsmöglichkeiten beschränkt sind? Wenn ihre eigenen Waffensysteme denen des Feindes quantitativ und qualitativ unterlegen sind? Und wenn sich das Kriegsgeschehen in den Wohnvierteln größerer Städte vollzieht und die Zivilbevölkerung nahezu schutzlos ist? Ist dann der Wechsel von der offenen Schlachtordnung zum Guerillakampf geboten? Zu einem Kampf aus dem Verborgenen heraus, der Jahre, vielleicht Jahrzehnte andauern kann und Hunderttausende Opfer fordern könnte?

Strategeme 1Der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger hat für solche, auf den ersten Blick ausweglose Situationen bereits vor über drei Jahrzehnten an die alte chinesische Kunst der Strategeme als Verteidigungsalternative erinnert. Strategeme bedeuten die Anwendung von List. Sie könnten als mögliche Handlungsweise der Schwachen alternativlos sein. Der Schweizer Theologe Ulrich Mauch hat in den biblischen Erzählungen Verhaltensmuster gefunden, die listiges Verhalten als Überlebensstrategie empfehlen. Sein Buch „Jesus und die List“ erschien 2001 im Theologischen Verlag Zürich. Mit Genehmigung von Niklaus Peter, dem Verlagsleiter, der mir das Buch vor vielen Jahren empfahl, zitiere ich im Folgenden direkt und indirekt aus typischen Abschnitten:

In China wird folgende Geschichte erzählt: Der alte Fuchs wurde vom wilden Tiger überrascht, als er sich an der Sonne wärmte. Aber bevor dieser zubeißen konnte, sagte der Fuchs: «Halt, weißt du denn nicht, dass du dich nicht am mächtigsten Tier der Erde vergreifen darfst?» Da lachte der Tiger und sperrte schon sein Maul auf, um den Fuchs zu verschlingen. Dieser jedoch forderte den Tiger auf, sich mit ihm auf einen Rundgang zu begeben, damit er sehe, wie gefürchtet er, der alte Fuchs, sei. Von Neugierde gepackt, verzichtete der Tiger auf sein Vorhaben und ließ sich führen. - Alle Tiere, denen sie nun begegneten, suchten beim Anblick des Tigers natürlich das Weite. So konnte der schlaue Fuchs nach dem Rundgang sagen: «Siehst du nun, wie gefürchtet ich bin?» Und der Tiger, der die ganze Zeit nur auf den Fuchs und die andern Tiere geschaut hatte, musste ehrfürchtig zustimmen und verzog sich kleinlaut.

Diese Geschichte ist ein Lehrstück der chinesischen List. Der Kleine, Machtlose fügt sich nicht einfach der Offensichtlichkeit der Machtverhältnisse, in denen er nichts zu bestellen hat. Er geht vielmehr vom komplexen Charakter der Welt aus, in der immer mehrere Lösungsmöglichkeiten für ein Problem zu finden sind, die vom jeweiligen Standort des Betrachters abhängen. Der Kleine zieht aus dieser Unübersichtlichkeit seinen Vorteil und verschiebt den Standort des mächtigeren Gegners unmerklich so weit, dass dieser, verwirrt durch das nun entstandene neue Bild, seine eigenen Möglichkeiten (welche natürlich vom alten Standort aus gut sichtbar waren) nicht mehr sieht. Der Kleine, Machtlose kommt also nicht dadurch zu seinem Ziel, dass er die komplexe Welt in Übersichtlichkeit zwingt, Ordnung schafft und diese seinem Gegner vorlegt. Dann wäre nämlich nur eins zu sehen: der Tiger ist stärker als der Fuchs, also verschlingt er ihn. Der Kleine geht genau umgekehrt vor: er lässt die Welt in ihrer Unübersichtlichkeit stehen, benutzt diese sogar zu seinen Gunsten. Darum soll sein Gegner hinter ihm herlaufen, so dass dieser die von ihm ausgehende Schreckwirkung nicht mehr auf sich bezieht, sondern auf den Fuchs. Der Tiger ist jetzt in seinem Erkennen völlig manipuliert. Wäre die Welt eindeutig, wäre das Vorgehen des Fuchses aussichtslos.

Die List geht vom schillernden Charakter der Welt aus. Wer sich darin wirklich auskennt, kann sein Gegenüber führen, wohin er will. Mit dieser Sichtweise ist nicht nur ein anderer Zugang im Umgang mit der Welt gewonnen als der, den wir mit unserer dauernd neu hergestellten Übersichtlichkeit gewohnt sind - auch die Frage der Macht ist neu aufgeworfen. Nicht eindeutige Machtmittel und platte Evidenz bestimmen den Fortgang der Geschichte, sondern die genaueste Situationsanalyse und die beweglichste Phantasie. Das bedeutet, dass jeder eine Chance hat und dass ein gewaltiges Potential an Hoffnung eröffnet ist.

Der Zuspruch, der dem legendären Prediger Jesu zugeschrieben wird, ist geradezu ein Appell an das Undenkbare, an das Unerhoffbare: «Selig seid ihr Armen; denn euch gehört das Reich Gottes. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr werdet gesättigt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.» (Lukas 6, Verse 20 ff). Voraussetzung für ein Handeln, das solchen Zuspruch ermöglicht, ist die möglichst vorurteilslose Anerkennung der Welt in ihrem schillernden, letztlich nicht durchschaubaren Charakter.

Klassisches Beispiel eines listigen Menschen, der dank der Chance, die ihm die schillernde Welt bietet, überlebt und sich sogar Bewegungsfreiheit erspielt, ist die literarische Figur des Till Eulenspiegel:

Da hat er sich wieder einmal so aufdringlich aufgeführt, dass ihn der Landesfürst aus seiner Burg schmeißt mit den Worten: «Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du deinen Fuß auf den Boden meines Reiches setzest, dann lasse ich dich hängen!» Das wäre für Till nicht schlimm, ist doch die Welt groß. Aber eines Tages muss er doch wieder durch dieses Land ziehen, weil er es eilig hat. Was tun? Eulenspiegel kauft sich beim nächsten Bauern eine Fuhre Erde, setzt sich hinein und lässt sich von einem Maultier gemächlich nach Hause ziehen - gerade vor der Nase des Landesfürsten vorbei. Dieser freut sich schon auf den baumelnden Galgenvogel, als Till ihn darauf aufmerksam macht, dass er sich an die gemeinsame Abmachung halte, sein Fuß ruhe ja noch immer auf dem Boden des Nachbarfürsten. Der Graf muss sich geschlagen geben, gebunden durch sein eigenes Wort, das in listiger Weise gegen ihn gewendet wird.

Der Feind ist eher selten von Prinzipien gekennzeichnet, wie sie der Landesfürst in dem Märchen an den Tag legt.

In kriegerischen Situationen wie der in der Ukraine wird es darum gehen müssen, den Feind zu überlisten, ihm arglistig zuzusetzen und dabei das eigene Leben nicht leichtfertig zu riskieren. List wird in der modernen digitalen Welt auch bedeuten, die Medien als Waffe einzusetzen. Und ebenso alle Möglichkeiten beinhalten, die digitalen Netze des Feindes zu blockieren und deren Botschaften mit einer gegenteiligen Bedeutung zu versehen. Die Soldaten des Feindes sind normalerweise auch Menschen, die verführt, die schlecht informiert wurden über die Ziele des Kriegs. Und die in den Kampfeinsätzen auf die Realitäten treffen. Hier ist der Hebel der List anzusetzen. Aber gleichzeitig auch zu fragen, ob es im Hinblick auf den Kriegsverbrecher Putin und seine Bande nicht eine Kombination aus List und Guerilla geben müsste. Darüber in Kürze mehr.

Foto:

Cover von „Senger, 36 Strategeme“
© S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Infos:
Ulrich Mauch
Jesus und die List
TVZ, München 2001
ISBN 3-290-17221-X

Harro von Senger
36 Strategeme
Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden
Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011
ISBN 978-3-596-19107-9

Harro von Senger
Die Kunst der List
Verlag C. H. Beck, München 2016
ISBN 978-3-406-67938-4