Fahne Ukraine mit AntiatomwaffensignetWladimir Putins Dolchstoßlegenden

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bedroht die NATO Russland? Und haben rechtsextreme Kräfte in der Ukraine versucht, die Herrschaft an sich zu reißen?

Es war nicht klug von der NATO, ehemalige Staaten der Sowjetunion wie Estland, Lettland und Litauen, die sich vor einer erneuten Expansion der Russen fürchten, zum Schauplatz militärischer Demonstrationen zu machen. Mitgliedschaft im Bündnis ja, aber unter Verzicht auf Frontstaatenvisionen. Diese Länder haben Russland nie bedroht. Aber sie liefern Putin jene Ausreden, mit denen er seit Jahren seine neuen Hegemonialmachtphantasien begründet. Auch für seinen Einmarsch in der Ukraine.

In der Debatte über Putins Krieg gegen die Ukraine wird immer wieder von interessierter Seite behauptet, dass das Land in Wirklichkeit von Rechtsradikalen beherrscht würde. Doch der tatsächliche Einfluss eines rechten Sektors ist vor dem Hintergrund der Präsidentschaftswahlen von 2019 zu relativieren. Denn Wolodymyr Selenskyj konnte bei der Stichwahl 73 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. In seinem Wahlprogramm fanden sich neben Forderungen nach mehr direkter Demokratie auch ein ausdrückliches Bekenntnis zum Kampf gegen Korruption. Ebenso sprach er sich für eine Westbindung aus. Die Kreise, welche andere, vor allem rechtsradikale Positionen eingenommen haben und nach wie vor daran festhalten, dürften eher auf Putins Linie liegen. Ob sie tatsächlich von entscheidendem Einfluss sind, darf bezweifelt werden. Denn falls es so wäre, hätte die Zeit für den Diktator im Kreml gespielt, er hätte nur abzuwarten brauchen. Vielleicht entspricht ihre Stärke dem Niveau, das hierzulande die AfD in ostdeutschen Landesparlamenten erreicht. Möglicherweise sogar der des Rassemblement National in Frankreich.

Und eine weitere haltlose Legende wird verbreitet. Putin sei vom Westen gedemütigt worden. Der vermeintlich Gedemütigte hat sich seit seiner Wahl zum russischen Präsidenten im Jahr 2000 keineswegs als hochsensible und verantwortungsvoll handelnde Persönlichkeit erwiesen. Zwei Jahrzehnte als Präsident, Ministerpräsident und erneut Präsident hinterließen eine deutliche Blutspur. In die Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen Sowjetrepubliken, die bereits zur Zarenzeit unter Zwang eingegliedert worden waren und die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion untereinander und gegenüber der Zentralregierung immer wieder befehden, hat er mit harter Hand eingegriffen, um zusammen mit Belarus und Kasachstan einen Gegenpol zu Staaten mit tendenzieller Westausrichtung wie Georgien, Moldawien und Ukraine bilden zu können. Wobei Gebietsansprüche gegenüber diesen Ländern nicht vom Tisch sind. Letzteres zeigte sich 2014 bei der Annektierung der Krim sowie der Unterstützung von Separatisten im Donezk-Gebiet. Und jetzt beim aktuellen Angriff.

Der Westen hat die Annexion der Krim damals zähneknirschend hingenommen, vor allem, weil sich die Bevölkerung dort mehrheitlich aus Russen zusammensetzt und die Halbinsel über mehr als eineinhalb Jahrhunderte Teil Russlands bzw. der Sowjetunion war. Diese Zurückhaltung, die allerdings mit diplomatisch verpackten Drohungen verknüpft war, verstand sich als Signal. Einerseits wollte man weitere Konflikte vermeiden, aber andererseits zum Ausdruck bringen, dass man zusätzliche Gebietsansprüche nicht akzeptieren würde, vor allem dann nicht, falls diese die nach der Auflösung der Sowjetunion vereinbarte Ordnung infrage stellen.
Rückblickend kann man darüber streiten, ob diese Strategie klug und richtig war. Möglicherweise hätte auch eine eindeutigere Haltung gegenüber den kriminellen Warlords im Donbass gezeigt, wo die Grenzen des Zumutbaren für demokratische Staaten liegen.

Nach meiner Einschätzung viel entscheidender und verhängnisvoller war und ist es, dass beim Kampf der politischen Systeme nach wie vor zu stark auf die rein militärische Karte gesetzt wird. Putin fürchtet sich offensichtlich wenig vor den Truppen Selenskyjs (selbst falls diese stärker wären), aber umso mehr vor einer aufgeklärten und demokratischen Öffentlichkeit - einschließlich einer freien Presse - in seinem eigenen Land. Zwar könnte er auch zivile Massenproteste im Kugelhagel ersticken lassen. Dadurch aber würde er sich Millionen Menschen, auf deren Wegschauen er angewiesen ist, zu Todfeinden machen. In einem Land wie Russland, das immer mehr durch große Städte mit gut ausgebildeten Bürgern geprägt wird, würde er sich dadurch auf einen teils gewaltfreien, teils gewaltbereiten Guerillakrieg einlassen.

Die Friedensbewegung zwischen Mitte der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre war nicht naiv. Von Ausnahmen abgesehen war sie auch nicht im üblichen Sinn pazifistisch gesinnt. Ich erinnere mich noch eines Ausspruchs, der Ghandi zugeschrieben wurde und lautete: „Mehr noch als Gewalt verabscheuen wir die Dummheit.“ Wir setzten auf Gewaltfreiheit, aber nicht generell auf Gewaltlosigkeit. Und wir setzten auf das Überlisten, vor allem auf die chinesische Kampftechnik der Strategeme. Eines davon heißt: „Den Gegner durch Gefangennahme des Anführers unschädlich machen.“ Ein anderes: „Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen.“ Oder: „Auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen.“ Jedes davon wird nicht leicht umzusetzen sein. Aber in Kombination mit schärfsten wirtschaftlichen Sanktionen, internationaler Isolierung und einer flexiblen, auch Provokationen einschließenden flexiblen Demonstrationstaktik in Moskau und anderen Städten, erscheint diese Strategie als realistisch und erfolgversprechend.

In den meisten Generalstäben werden solche Szenarien entworfen und eingeübt. Man muss nicht bis an die Zähne bewaffnet sein, um „den Tiger vom Berg in die Ebene zu locken“. Putin wird darüber lachen. Und das wäre sein nächster schwerer Fehler.

Foto:
Ukrainische Fahne mit Symbol der Friedensbewegung
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