Die SPD in der Zeitenwende
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main – Drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stellte die SPD ihre jahrzehntelange Politik der Annäherung und des Wandels in Frage.
Warum eigentlich? Ohne Willy Brandts Ostpolitik hätte es keine Entspannung im damals geteilten Europa gegeben. Und es wäre letztlich nicht zur deutschen Vereinigung gekommen. Die völkerrechtliche Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze war ein erster Schritt zur Beendigung des Kalten Kriegs exakt dort, wo sich die hochgerüsteten und atomar bewaffneten Armeen der Blöcke direkt gegenüberstanden. Die Normalisierung der Beziehungen zur DDR und zu den anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion war der nächste. Egon Bahr, Brandts außenpolitischer Berater, nannte dieses Prinzip „Wandel durch Annäherung“.
Und dieser Strategie war Erfolg beschieden. Beispielsweise durch Michail Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion, die als Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung) bekannt wurden. Letztere haben auch die Bürgerrechtsbewegungen im europäischen Teil der Sowjetunion, vor allem die in der DDR, beeinflusst. Beim Fall der Berliner Mauer blieben die sowjetischen Truppen in den Kasernen. Anders als beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Gorbatschow hatte diesen Wandel zum bürgerlichen Freiheitsbegriff als „Einsicht in die Notwendigkeit“ erkannt und war damit indirekt Friedrich Engels‘ Interpretation von Hegels Lehre gefolgt.
Dass der Prozess der Umgestaltung in der Sowjetunion am Ende der 1980er Jahre ähnlich widersprüchlich verlaufen würde wie derjenige der sozialistischen Revolution am Anfang des 20. Jahrhunderts, war zu erwarten gewesen. Beiden Veränderungen fehlten weithin demokratische Elemente, sie waren Umsturzversuche von Minderheiten, die an politischen Schalthebeln saßen. Am Ende der Entwicklung standen die Auflösung der Sowjetunion und die Wiedergeburt eines Russlands mit zaristisch-totalitären Zügen. Befreien konnten sich lediglich die baltischen Staaten, Polen und die Tschechoslowakei. Auch in der Ukraine, in Georgien und Moldau zeichneten sich Autonomiebestrebungen ab, deren Ziel marktwirtschaftlich orientierte Demokratien nach westlichem Muster waren und es noch sind. Auf dem Balkan stießen Unabhängigkeitsbewegungen auf nationalistische und religiöse Gegenbewegungen, was zu einem Krieg führte, dessen Folgen man bis heute spüren kann. Am politisch gespaltenen Serbien lässt sich das besonders gut erkennen. Albanien, Rumänien und Bulgarien erweisen sich als relativ stabil, wenngleich sie noch immer anfällig für Schritte nach rückwärts sein dürften.
Für diesen Prozess von Auflösung, Rück- und Neubildung müssen sich deutsche Sozialdemokraten nicht entschuldigen. Im Gegenteil: Sie waren Avantgardisten eines neuen demokratischen Bewusstseins in Europa, das maßgeblichen Einfluss auf Osteuropa hatte. Solange sie sich aktiv eingemischt und die politischen Konstellationen überwiegend richtig eingeschätzt haben, war ihrem Kurs Erfolg beschieden.
Wenn man der SPD in diesem zeitgeschichtlichen Abschnitt Fehler vorwerfen kann, dann die Weiterverwendung eines Paradigmas, das von den neuen Spielern in Moskau nicht akzeptiert wurde. Die Bereitschaft zur Koexistenz mit der Sowjetunion einschließlich einer Annäherung der Staaten und Völker wurde von der Machtelite im neuen Russland nicht honoriert. Diese begriff den Zerfall von 1991 als Niederlage, die rückgängig gemacht werden müsse. Dass sich die Welt rund um den ehemaligen sowjetischen Machtbereich damals längst verändert hatte, wurde bewusst übersehen.
Die Bombardierungen von Grosny und Aleppo, die Anzettelung von Separatistenaufständen im ukrainischen Donbass und die Besetzung der Krim waren Vorspiele eines Kampfes, der ausschließlich um Macht und Einfluss geführt wurde. Es ging nicht mehr um Kommunismus, Sozialismus, Kapitalismus oder gar um den Weltfrieden. Spätestens 2014 wäre es an der Zeit gewesen, ein unübersehbares Signal zu setzen. Nämlich die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Seinerzeit war die SPD an der Bundesregierung beteiligt und nicht einflusslos; sie hätte der Ukraine und anderen mit ihrer Stimme helfen können.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar eine Zeitenwende ankündigte, also einen Bruch mit der bisherigen Politik des Ausgleichs, hätte er sinngemäß sagen sollen, dass die russische Regierung und deren Verbündete die seit über 30 Jahren ausgestreckte Hand der Bundesrepublik ausgeschlagen hätten. Stattdessen sei Deutschland und der demokratischen Welt der Fehdehandschuh vor die Füße geworfen worden. Deswegen müssten die Aggressoren ab sofort mit der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine durch Deutschland rechnen. Es sei denn, die Angreifer würden noch am selben Tag ihre Truppen von dort zurückziehen.
Scholz hätte den bisherigen politischen Pazifismus nicht aufkündigen müssen. Denn dieser kann ohnehin nur eine Bereitschaft zur Gewaltfreiheit sein, nicht aber zur grundsätzlichen Gewaltlosigkeit. Er hätte hinzufügen können, dass Russland das mächtige Schwert der westlichen Demokratien zu spüren bekäme, falls es die Ukraine weiter militärisch bedrohen würde. Das wäre auch ohne Beteiligung der NATO möglich.
Anschließend hätte er nicht mehr reden, sondern handeln sollen. Konkret die Bereitstellung von Waffen für die Ukraine organisieren und wirtschaftliche Sanktionen drastisch verschärfen. Dazu hätte gehört, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zu entlassen, die bereits als Justiz- und Familienministerin eine Fehlbesetzung war. Seinem Genossen Rolf Mützenich hätte er vermitteln müssen, dass ein Gesinnungspazifist nicht in Frieden leben könne, wenn es dem Nachbarn Putin nicht gefiele. Um den Frieden zu sichern, müssten notwendigerweise dem Friedensfeind die Waffen entrissen werden. Das Kabinett hätte er auf die Devise verpflichten sollen: Dem Kauf von Öl und Erdgas aus Russland müsse die Lieferung des Mehrfachen an Waffen an die Ukraine folgen. Im Übrigen würde er es der Wirtschaft nicht länger durchgehen lassen, falls diese die Entwicklung regenerativer Energiequellen weiter verzögere. Das Ausbremsen einer Alternative wie die des Wasserstoffs vor 60 Jahren hätte Konsequenzen für die Vorstände sämtlicher Großunternehmen.
Auf allen regierungsoffiziellen Pressekonferenzen wünsche ich mir als Hintergrund ein Plakat mit der Aufschrift:
„Ukraine. Wenn wir ihr nicht helfen, auf wessen Hilfe können wir hoffen, falls wir welche benötigen?“
Die SPD wird intellektuell über sich hinauswachsen müssen, falls sie als Partei und demokratische Instanz bestehen will. Das gilt nicht nur für den Bund. Seit der letzten Bundestagswahl ist etwa ein Viertel der sozialdemokratischen Fraktion im Juso-Alter. Doch von jugendlichem Aufbruch vernehme ich nichts, auch nicht bei der Meinungsbildung zum Ukraine-Krieg. Haben sich lediglich Angepasste und Frühvergreiste bei der Kandidatennominierung in den Parteigliederungen durchgesetzt? In Frankfurt am Main scheint das der Fall zu sein.
Dort fordert die SPD ihren Parteigenossen und Oberbürgermeister Peter Feldmann zum Rücktritt auf. Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen des Verdachts der Vorteilsannahme anklagen, weil seine Ehefrau mit ihrem Arbeitgeber, der Arbeiterwohlfahrt, einen Vertrag abschließen konnte, in dem sie besser eingestuft worden was als Kolleginnen und Kollegen mit vergleichbaren Aufgaben. Feldmann war vor seinem Amtsantritt 2012 ebenfalls bei der ÁWO tätig. Und könnte ihr nach Meinung der Ermittler durch seine Einflussnahme die lukrativeren Konditionen verschafft haben. Darüber hinaus hätten AWO-Funktionäre Spenden für den Oberbürgermeister-Wahlkampf 2017 akquiriert, was nicht verboten ist. Angeblich soll Feldmann dafür Gegenleistungen angekündigt haben. Nachweisen lassen sich solche nicht.
Der Fall liegt dem zuständigen Gericht bis jetzt nicht vor, folglich gibt es keine Verhandlung und erst recht kein Urteil. Fazit: Peter Feldmann gilt als unschuldig. Leider verhält er sich nicht immer geschickt, neigt gelegentlich zu Peinlichkeiten.
Andererseits vertritt er nachweisbar die Interessen normaler Frankfurter Bürger, insbesondere die von Mietern und sozial Schwächeren. Das kommt weder bei Immobilienspekulanten noch bei Vertretern der Finanzwirtschaft gut an. Und die haben einen einflussreichen Fürsprecher in der SPD. Nämlich den Planungsdezernenten. Der mobilisiert gegen seinen Chef und rechnet sich Chancen aus, diesem nachfolgen zu können. In einigen Frankfurter Ortsvereinen hingegen wird laut von Verrat gesprochen. Der Erste Bevollmächtigte der Frankfurter IG Metall fragte unlängst in einem Zeitungsinterview, was dieses Gezerre eigentlich bezwecken solle. Für die Gewerkschaft sei Peter Feldmann ein wichtiger Partner. Daran könnte sich erst dann etwas ändern, falls er tatsächlich rechtskräftig verurteilt worden wäre.
Die SPD fordert alle, die es gut mit ihr meinen, heraus. Und enttäuscht sie bei fast jeder Gelegenheit. Von Bürgern, die in schwierigen Situationen stecken, fordert sie Mut, den sie selbst aber nur selten an den Tag legt. Sie reklamiert für sich Solidarität, die sie aber gegenüber anderen regelmäßig vermissen lässt. Folglich erscheint diese Partei als ein hoffnungsloser Fall. Sollte sie aber tatsächlich in der Bedeutungslosigkeit versinken, wer könnte an ihre Stelle treten?
Die Grünen vermögen zwar im Bund durch Annalena Baerbock und Robert Habeck zu überzeugen. In Hessen, wo sie in einer schwarz-grünen Koalition mitregieren, vermisst man eine typisch grüne Handschrift. In Frankfurt am Main sind sie die stärkste Partei in der Stadtverordnetenversammlung. Sie stellen die Bürgermeisterin und vier Stadträte. Die ökologisch-soziale Revolution ist jedoch bislang ausgeblieben. Bliebe als letzte Möglichkeit noch die LINKE. Doch die scheint vergessen zu haben, warum sie links ist.
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